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Kreuzberger Szene.

© imago/Peter Seyfferth

Berlin, Kreuzberg und die Bundeswehr: Alternative Piste

Wehrdienstverweigerer, Hausbesetzer, Mai-Demonstrationen und neue Bürgerlichkeit. Bernd Matthies erklärt, wie der Mythos Kreuzberg entstand.

Ironie der Stadtgeschichte: Schuld an Kreuzberg ist die Bundeswehr. Jedenfalls, wenn die Rede ist von den Besonderheiten dieses unregierbaren Berliner Bezirks, dessen Ungebärdigkeit sich einst im Schatten der Mauer entwickelte und später auch das bürgerliche Friedrichshain ansteckte. Denn es war die Bundeswehr, die der Mauerstadt junge Männer aus dem ganzen Bundesgebiet zutrieb, die dem Wehrdienst entkommen wollten; der alliierte Status machte West-Berlin zum Fluchtpunkt.

Es kamen die vielbeschworenen schwäbischen Bürgerkinder, aber nicht nur sie. Viele studierten, viele hingen herum und jobbten, manche machten gar nichts – aber alle verstanden sich als links und alternativ, das ergab sich schon aus der Abneigung gegen den Wehrdienst. Und weil das Geld knapp war, lief die Wohnungssuche mehr oder weniger automatisch auf Kreuzberg hinaus, genauer: auf den alten Postbezirk SO 36 im Osten. Ihn hatte die Neubauwut der Aufbaujahre verschont, hier war es damals leicht, eine Wohnung mit Außentoilette und Kachelofen für 90 Mark im Monat zu finden, in die auch noch ein paar Freunde hinein passten.

Der Kreuzberger „Häuserkampf“ war die logische Folge. Denn der Wohnraum war knapp, aber viele mehr oder weniger baufällige Häuser standen leer oder waren mitsamt Mietern dem weiteren Verfall preisgegeben. Erste Besetzungen gab es 1971, als ein Kreuzberger Haus, das spätere „Georg–von-Rauch-Haus“, besetzt wurde, zwei Jahre später kam das „Tommy-Weisbecker-Haus“ hinzu, ebenfalls getauft nach einem Szene-Märtyrer.

Christian Ströbele gewann in Kreuzberg für die Grünen immer wieder das Direktmandat für den Bundestag.
Christian Ströbele gewann in Kreuzberg für die Grünen immer wieder das Direktmandat für den Bundestag.

© Michael Kappeler / dpa

Ströbele, der Schattenbürgermeister

Richtig los ging es aber erst Ende der Siebziger, als auch im bürgerlichen Berlin die Stimmung gegen das ungezügelte Plattmachen der Altbausubstanz kippte. Konzepte wie die „behutsame Stadterneuerung“ setzten sich durch, und Areale wie der Chamissoplatz wurden wieder als städtebauliche Juwele erkannt. Die Hausbesetzer spürten also Rückenwind, zumal im Oktober 1978 – in Kreuzberg – die Alternative Liste (AL) gegründet wurde mit dem ausdrücklichen Ziel, die außerparlamentarische Opposition in die Rathäuser zu bringen. Ebenfalls 1978 erregte der „Tunix-Kongress“ die Gemüter, der als Impuls für die Gründung der „taz“ galt, die allerdings schon länger geplant war und sich nun ebenfalls in Kreuzberg ansiedelte. Einer ihrer Vordenker, der Anwalt und AL–Frontmann Hans-Christian Ströbele, galt mehrere Jahrzehnte als eine Art Kreuzberger Schattenbürgermeister. 1981 fand die Bewegung ihren tragischen Höhepunkt, als der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattay bei einem Räumungseinsatz, angeordnet von CDU-Innensenator Heinrich Lummer, vor einen Bus getrieben wurde und starb.

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Dann beruhigte sich die Lage, und der Generationswechsel folgte. Die ersten Hausbesetzer hatten sich etabliert, machten ihren Frieden mit den bürgerlichen Mietverträgen oder zogen weg, zum Beispiel in den ruhigen Westteil Kreuzbergs. Ihre Nachfolger agierten aggressiver, interessierten sich nicht für politische Repräsentanz, sahen sich als Kiez-Guerilla in schwarz mit eigenen Regeln. Und sie konnten sich im Kampf gegen die verhasste Volkszählung 1987 eine eigene Organisation und Resonanz bis weit ins Bürgertum schaffen.

Der 1. Mai 1987 markierte die Wende, jener Tag, an dem die rituelle Kreuzberger Mai-Demonstration erstmals aus dem Ruder lief und eine Reihe von rauchenden Ruinen hinterließ. Die Fotos des geplünderten und abgebrannten Bolle-Supermarkts am Lausitzer Platz gingen um die Welt und begründeten den Ruf des Bezirks als Heimstatt maskierter Desperados. Über Jahrzehnte wurde der „Revolutionäre 1. Mai“ in Kreuzberg zum Schauplatz von Straßenkämpfen zwischen Autonomen und Polizei.

Nach der Wende neuer Schwung

Seit den späten Achtzigern widmet sich die Szene dem Thema „Gentrifizierung“. Es gab weniger Hausbesetzungen, aber Nadelstiche wie 1987 das Fäkalien- Attentat auf das Kreuzberger Restaurant „Maxwell“, das als Vorposten dieser Entwicklung galt. Die Täter hängten sich mit dem Namen „Klasse gegen Klasse“ ein vulgärmarxistisches Mäntelchen um.

Die Wende brachte der Hausbesetzerbewegung neuen Schwung. Gleich hinter der Oberbaumbrücke in Friedrichshain standen massenhaft verfallene Häuser, die besetzt und militant verteidigt wurden; die gewaltsame Räumung der Mainzer Straße, in der mehrere okkupierte Häuser standen, sprengte im November 1990 die rot-grüne Senatskoalition unter Walter Momper. Eberhard Diepgen und die CDU kehrten zurück, aber Kreuzberg, im Laufe der Bezirksreform 2001 mit Friedrichshain vereint, ging auf seine eigene Reise zum grün dominierten gallischen Dorf Berlins. In dem, wie es scheint, der Arm der Autonomen bis weit ins Rathaus reicht.

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