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Beides gehört zu Berlin: der Fernsehturm und die EU-Flagge.

© David GANNON / AFP

Abgeordnete ändern Verfassung: Berlin bekennt sich zu Europa – und knüpft daran viele Erwartungen

Das Abgeordnetenhaus hat die EU in der Verfassung verankert. Senator Lederer sieht das als politischen Auftrag. Doch die Ideen sind sehr unterschiedlich.

Von Sabine Beikler

Das Abgeordnetenhaus hat mit den Stimmen der Koalition, CDU und FDP eine Änderung in der Berliner Landesverfassung beschlossen: Alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD verständigten sich in dem Gesetz zur Änderung der Verfassung darauf, dass sich Berlin als Land der Bundesrepublik Deutschland und als Teil der EU bekennt "zu einem geeinten Europa, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Städte und Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert".

Bis auf Hamburg haben jetzt alle Bundesländer einen Europabezug in ihren Landesverfassungen aufgenommen. Die Verfassungsänderung wurde von der überparteilichen „Junge Europäische Bewegung Berlin/Brandenburg“ und der „Europa-Union Berlin“ angestoßen.

Die Europapolitikerin und stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Franziska Brychcy, sagte, dass fünf Fraktionen sich darauf verständigt haben, sei ein "politisches Signal". Berlin sei eine "europäische Stadt und Region", dieses müsse in der Verfassung Einzug halten. Die europäischen Werte müssten mit Leben gefüllt werden wie die Solidarität mit anderen Ländern, die nicht an den EU-Grenzen ende. Sie nannte Seenotrettungsorganisationen, die Geflüchtete retten.

Sie kritisierte die AfD-Fraktion, die diesen Antrag nicht mitgetragen hat und stattdessen "den EU-Austritt fordert", sagte Brychcy. Kooperation sei besser als Konfrontation: Politische Herausforderungen ließen sich nicht immer in Nationalstaaten lösen wie zum Beispiel gemeinsame Anstrengungen für den Klimaschutz oder die Einführung eines europäischen Mindestlohns.

"Wir brauchen mehr Europa für alle Menschen und weniger Europa für Eliten", sagte Brychcy. Das müsse sich in konkreten Projekten widerspiegeln. Die Verfassungsänderung müsse weiter "mit Leben gefüllt werden". Bestehende Hindernisse müssten abgebaut und Chancen für die junge Generation neu eröffnet werden. "Ich bin mir sicher, es kann und wird uns gelingen", sagte Brychcy.

Franziska Brychcy (Linke) forderte über die Verfassungsänderung hinaus auch konkrete Projekte.
Franziska Brychcy (Linke) forderte über die Verfassungsänderung hinaus auch konkrete Projekte.

© Jörg Carstensen/dpa

Dregger: "Europa ist Teil der deutschen Identität"

CDU-Fraktionschef Burkard Dregger wies auf seinen Vater, den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Alfred Dregger, hin, der überzeugter Europäer und Patriot gewesen sei. Das habe ihn als Sohn geprägt. "Europa ist Teil der deutschen Identität", betonte Dregger. Deutsche Interessen könnten zum Beispiel auf dem Weltmarkt im Hinblick auf die wichtige Exportwirtschaft auch nicht allein gewahrt werden.

Die EU stelle den größten Wirtschaftsraum der Welt dar, sagte Dregger. "Das ist ein Pfund in den internationalen Freihandelsbestrebungen, die für die deutsche Exportwirtschaft und die Arbeitsplätze so wichtig sind." Europa sei aber mehr als ein Interessenverband. "Europa ist eine Kulturgemeinschaft." Nach dem Mauerfall seien auch viele osteuropäischen Länder in die EU aufgenommen werden.

Burkard Dregger (CDU) erinnerte in seiner Rede zu Europa auch an seinen Vater, den früheren Chef der Unionsfraktion im Bundestag.
Burkard Dregger (CDU) erinnerte in seiner Rede zu Europa auch an seinen Vater, den früheren Chef der Unionsfraktion im Bundestag.

© Jörg Carstensen/dpa

Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft entspreche auch dem Anspruch von Berlin, sagte Dregger. Die Landesverfassung mit einer Europaklausel zu ergänzen sei das eine, aber sie müsse auch inhaltlich mit Leben gefüllt werden wie mit den Austausch von Studierenden in andere Länder oder dem Ausbau des Sprachunterrichts an den Schulen. Er kritisierte Kultur- und Europasenator Klaus Lederer (Linke). Dessen Bemühungen auf Europaebene seien in den letzten Jahren kaum wahrnehmbar gewesen.

SPD: Berlin hat "immer eine europäische Komponente gehabt"

14 andere Landesverfassungen hätten sich schon zu Europa bekannt, sagte der SPD-Abgeordnete Frank Zimmermann in der Debatte vor der Abstimmung zur Verfassungsänderung. Es sei überfällig, dass das jetzt auch Berlin tue. Die Entwicklung von Berlin habe historisch betrachtet "immer eine europäische Komponente gehabt". Das sei ein "Wesensmerkmal" dieser Stadt.

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Zimmermann wies auf die jüngere deutsche Geschichte hin und nannte in diesem Kontext die Beseitigung der Kriegsfolgen, den Wiederaufbau der Stadt, die Überwindung der Blockade von West-Berlin, die Friedenssicherung im Kalten Krieg und die Wiedervereinigung mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag.

Die Verfassungsänderung sei auch keine reine Symbolik. Seit Adenauer und de Gaulle sei die Einbettung Deutschlands in Europa Staatsräson gewesen. Berlin sei aktiv im europäischen Städtenetzwerk. "Wir bekennen uns zu einem geeinten Europa", sagte Zimmermann und betonte, das beinhalte auch ein erweitertes Europa außerhalb der EU-Grenzen. Das vereinte Europa sei größer als die EU. Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz würden auch für Länder wie Aserbaidschan, Russland oder Weißrussland gelten. Die Zusammengehörigkeit werde auch in Zukunft für Berlin wichtig sein. Zimmermann nannte als Beispiel die gemeinsame Sicherheit oder Herausforderungen im Klimaschutz.

AfD: "Garant für den Frieden ist nicht die EU, sondern die Nato"

Berlin sei Hauptstadt des größten, zentralen Mitgliedstaates der EU, startete der AfD-Politiker Hugh Bronson seine Rede. Europa bestehe aus 47 Staaten, die EU lediglich aus 27 Staaten. Es sei eine "methodische Anmaßung", dass Staaten wie Norwegen oder die Schweiz mit Brüssel "in einen Topf geworfen werden". Deshalb lehne die AfD den Antrag ab. Durch eine vorangetriebene Regionalisierung werde die Autorität von Nationalstaaten in der EU zunehmend reduziert.

Bronson kritisierte die Begründung der Verfassungsänderung, wonach die deutsche Einheit ohne die europäische Solidarität nicht denkbar gewesen wäre. Für die Wiedervereinigung Deutschlands seien maßgeblich die USA und Russland verantwortlich, weniger europäische Nachbarn wie Frankreich oder Großbritannien.

"Unser Garant für den Frieden ist nicht die EU, sondern die Nato", sagte Bronson. Er sprach von "Exits" aus der EU wie Grönland, das 1982 die EWG verlassen habe, später Island und Großbritannien. Der Brexit sei eben "kein Einzelfall". Berlin brauche keine "Einschwörung auf die EU". Das habe einen "deklaratorischen Charakter und in einer Verfassung gar nichts zu suchen". Eine Verfassungsanpassung sei "überflüssig. Zur Wahrung eines freien Europa lehnt die AfD diesen Antrag ab".

Grüne: "Zuerst Sterben an europäischen Außengrenzen beenden"

Für die Grünen sprach Europapolitikerin Susanna Kahlefeld. Europa in Berlin sei bürgerschaftlich verwurzelt, wie die von der Europa-Union organisierte Kampagne "Europa in bester Verfassung" gezeigt habe. Europa müsse von Berlin aus mitgestaltet werden. Das werte sie als Auftrag. "Dafür muss zuerst das Sterben, Töten und Sterben lassen an den europäischen Außengrenzen beendet werden", sagte Kahlefeld.

Auch in Berlin müssten sich die Europapolitik gestaltenden Menschen klar machen, dass "uns Menschen außerhalb Europas durch die Geschichte hindurch als inhuman und verlogen wahrnehmen". Sogenannte europäische Werte seien insoweit nur europäisch, "als sie nur für weiße Europäer zu gelten scheinen". Europa von Berlin aus gestalten müsse heißen, dass Berlin Hilfe für Geflüchtete in dem internationalen Netzwerk Solidarity Cities leiste.

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Europa habe vielen Ländern eine lange Phase des Friedens beschert. "Es ist ein Raum der relativen Sicherheit entstanden", sagte Kahlefeld. Berlin sei aber auch nah an den Ländern dran, die europäische Werte ablehnten und diese verächtlich machten. Polen zum Beispiel verstehe sich als "Hort des christlichen Abendlandes und verbietet den Frauen mit dem Verbot von Abtreibungen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden". Frauenrechte ergäben sich eben nicht automatisch aus der europäischen Kultur, sondern sie seien hart erkämpft worden.

Kahlefeld betonte in diesem Kontext die europäische Solidarität. Kooperationen müssten auf europäischer Ebene verstärkt werden, um zum Beispiel den Klimawandel zu bekämpfen. Berlin müsse sich auf allen Ebenen gestaltend in ein Europa einbringen, das gut für seine Bürger:innen sei.

FDP: "Zusammenarbeit mit Polen nicht mit erhobenem Zeigefinger"

Der FDP-Europapolitiker Stefan Förster wies auf Hamburg hin. Die Hansestadt hat bis jetzt in seiner Landesverfassung kein Bekenntnis zu Europa verankert. Er sei sich sicher, dass Hamburg dies aber auch noch wie Berlin schaffen werde. Berlin habe immer von der europäischen Solidarität gelebt. Das Bekenntnis zu einem geeinten Europa sei deshalb wichtig. Berlin sei auch die "europäischste Stadt Deutschlands".

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Gerade für Berlin sei die Zusammenarbeit mit Polen existenziell. "Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sind wir gut beraten die Zusammenarbeit mit Polen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern auf Augenhöhe zu führen", sagte Förster. Viele Errungenschaften in Berlin seien mit Europa verbunden. Trotzdem müsse man immer wieder für Europa werben. Europa bedeute eben auch, sich auszutauschen und ins Gespräch zu kommen wie bei Studien- und Erasmusprogrammen.

Förster warb für die 1993 gegründete Europäische Akademie mit dem Fokus auf internationale Vernetzung. Sie habe eine herausragende Funktion für Berlin. Und er lobte die Europa-Union für Berlin wegen ihres zivilgesellschaftlichen Engagements. Der FDP-Politiker appellierte, den Europa-Gedanken noch stärker in die Verwaltungen zu tragen. "Das muss besser werden, und es muss noch mehr Projekte geben."

Lederer: Berlin hat seine Präsenz in Brüssel ausgebaut

Für den Senat sprach Europasenator Klaus Lederer. Berlin bekenne sich mit der Verfassungsänderung zu einem geeinten Europa. "Das ist ein Arbeitsauftrag", betonte Lederer. Berlin und Europa seien untrennbar miteinander verbunden. Weit mehr als 270.000 Menschen aus anderen Teilen Europas lebten inzwischen in Berlin. "Sie gehören zur DNA dieser Stadt."

Klaus Lederer (Linke) ist als Senator auch für Berlins Europapolitik zuständig.
Klaus Lederer (Linke) ist als Senator auch für Berlins Europapolitik zuständig.

© Jörg Carstensen/dpa

Lederer betonte, dass für ihn europäische Werte universell und die Werte der Menschenrechte sind. Die Schwerpunkte seiner Arbeit lägen darin, unter anderem die europäische Demokratie zu stärken. Berlin sei im kontinuierlichen Austausch von EU-Institutionen. Die Präsenz von Berlin in Brüssel sei ausgebaut worden. Und Gelder aus den EU-Strukturfonds würden auch in Berlin ankommen. Europäische Politik müsse sich eben direkt bei den Bürger:innen zeigen.

Wichtig für den Senat sei auch die Netzwerkarbeit in Städtepartnerschaften und -netzwerken. "Aus Partnerschaften wurden Freundschaften", sagte Lederer. Diese würden mit Leben gefüllt. "Aber da geht noch mehr", betonte Lederer. Als Brückenbauerin zwischen Ost- und Westeuropa sei für Berlin die Oder-Partnerschaft besonders hervorzuheben. Der kulturelle Austausch sei verstärkt worden.

Lederer dankte den Initiatoren der Verfassungsänderung. Mit den zukünftigen Herausforderungen in Europa müsse man sich aber auch kritisch auseinandersetzen. An der Konferenz zur Zukunft der EU werde sich Berlin aktiv beteiligen. Ab November sollten Diskussionsplattformen stattfinden, bei denen man sich einbringen könne. Er lud die Berliner:innen ein, sich ebenfalls daran zu beteiligen. Über allem stehe die Frage, in welchem Europa man künftig leben wolle.

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