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Beim Chefarzt. Ernst Weigang (r.) erklärt den Patienten Manfred Köppen (l.) und Rolf Kreibich ein Aneurysma-Modell.

© Thilo Rückeis

Arotenaneurysma: Eine Frage des Bauchgefühls

Ein Aortenaneurysma ist eine gefährliche Aussackung der Hauptschlagader, vor allem Männer sind betroffen. Am Hubertus-Krankenhaus in Berlin ist man auf diese Eingriffe spezialisiert. Ein Operationsbesuch in Zehlendorf.

Sie müssen ihre Straßenkleidung ablegen und das hier anziehen“, erklärt Professor Ernst Weigang, während er sich selbst umzieht und alles in einem Spind verschließt. „Das“ sind ein grüner OP-Kittel und Hose sowie pantoffelähnliche Schuhe aus Gummi. Weigang ist Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie und ­endovaskuläre Therapie des Evangelischen Krankenhauses Hubertus, ich folge ihm durch eine Schleuse. Er trägt einen kompletten Bleischutzanzug, den brauche ich nicht. Denn in den eigentlichen OP-Saal darf ich gar nicht hinein. Oder immer nur für kurze Zeit, wenn die Röntgenstrahlung gerade ausgeschaltet ist. Stattdessen nehme ich hinter einer großen Bleiglasscheibe Platz und blicke in den Saal. Das Operationsteam hat alles vorbereitet, auf dem Tisch liegt der Patient, in Vollnarkose. Seine Haut ist mit Folie abgeklebt, das minimiert die Gefahr einer Infektion durch Keime. Auf einem großen Monitor kann man alles verfolgen, was in den Schlagadern des Patienten gerade geschieht. Angiografie nennt sich das Verfahren: Bildgebung durch Röntgenstrahlung, zusätzlich wird ein Kontrastmittel gegeben, um die Gefäße deutlicher hervorzuheben.

Auch im Nebenraum gibt es einen Monitor, der ein identisches Bild zeigt, so- dass ich den Eingriff live verfolgen kann. Die Tür bleibt offen, Ernst Weigang macht sich an die Arbeit – und erklärt mir, durch die Tür rufend, was gerade geschieht. Mitte 70 ist der Patient, ein klassisches Alter für das Krankheitsbild, um das es hier geht. Er leidet an einem Bauchaortenaneurysma, einer Aussackung der Hauptschlagader im Bauchraum. Es ist die Region, in der sich die Aorta teilt in die linke und rechte Beckenschlagader, die dann jeweils weiterführen in die Beinschlagadern. Obwohl ein Aneurysma prinzipiell an jeder Stelle des Blutkreislaufs auftreten kann (etwa in der Kniebeuge), ist der Bauchraum besonders gefährdet, da sich das durchfließende Blut im Vorfeld der Verzweigung der Aorta stauen und der Druck deshalb besonders hoch sein kann. Mit zunehmendem Alter kann sich die Gefäßwand umwandeln, starr werden und aussacken – entweder spindelförmig oder nur zu einer Seite hin. Das ist dann besonders gefährlich, denn bei einer einseitigen Aussackung können sich Wirbel des Blutes bilden, der Druck auf die Gefäßwand steigt hierdurch noch mehr. Die große Gefahr: ein Durchbruch der Gefäßwand. Man spricht dann von einem rupturierten Aneurysma. Das Blut ergießt sich unkontrolliert in den Körper, es besteht akute Lebensgefahr. In der Regel versterben diese Patienten, bevor sie ein Gefäßzentrum erreichen können.

Eine Prothese wird ins Gefäß gezogen und übernimmt dessen Funktion

Gefäßchirurg Weigang hat inzwischen einen Führungsdraht weit in eine der beiden Beckenschlagadern des Patienten vorgeschoben. Die Aneurysma-Therapie funktioniert so: Eine Stentprothese wird mithilfe des Drahts (der später wieder rausgezogen wird) in die Schlagader eingebracht. Verankert werden muss sie an einem Stück gesunder Gefäßwand. Durch diese Prothese wird später das Blut strömen. Das Prinzip lässt sich am besten veranschaulichen, wenn man sich einen Tunnel vorstellt, in den ein zweiter Tunnel geschoben wird – der dann zum neuen Haupttunnel wird. Die ausgesackte natürliche Gefäßwand bleibt im Körper und schrumpft mit der Zeit, sie ist jetzt nicht mehr gefährlich. Ich darf eine Muster-Prothese in die Hand nehmen: Sie besteht aus einem dünnen Titangerüst, das mit Dacron überzogen ist, einem wasserdichten – oder in diesem Fall besser: blutdichten – Gewebe aus Kunststoff. Wichtigste Eigenschaft: Die Prothese ist elastisch. Drücke ich sie zusammen, expandiert sie von alleine wieder in ihre ursprüngliche Form. Dass muss sie auch, denn sie soll sich gegen die Gefäßwände pressen. So ist gewährleistet, dass der neue „Tunnel“ nicht verrutscht.

Das Besondere an dem Patienten, den Weigang heute operiert: Er war vor einem Jahr schon einmal hier, bereits damals wurde eine Prothese in eine der beiden Beckenschlagadern eingebracht. Heute ist die Hauptschlagader dran. „Ich muss die neue an die alte Prothese andocken“, erklärt Weigang im Operationssaal, „und einen sauberen Anschluss herstellen.“ Das klappt nicht sofort, er muss, wie er es formuliert, „neu sondieren“. Auf dem Monitor kann ich die Prozedur genau verfolgen, Gefäße und auch die Prothesen sind gut sichtbar. Aber nicht nur sie – auch alles andere, was sich im Körper befindet: Wirbelsäule, Darm, weitere Organe. Ich brauche ein paar Augenblicke, um zu verstehen: Man sieht alles übereinander. Der richtige Blick ist gefordert, dreidimensionales Vorstellungsvermögen anhand eines flachen, zweidimensionalen Bildes. Für Weigang und sein Team ist das pure Routine.

Eine Stunde dauert der Eingriff, dann ist es geschafft, die Wunden werden verschlossen. Ich darf hinein und einen kurzen Blick auf die Schnitte werfen: Groß sind sie nicht. Aneurysmen werden heute fast immer miminalinvasiv operiert: Der Zugang zum OP-Gebiet erfolgt endovaskulär, durch das Innere der Gefäße. Das war noch zu Beginn der 1990er Jahre völlig anders, erzählt Ernst Weigang: „Früher galt als großer Chirurg, wer einen großen Schnitt gemacht hat. Das waren oft riesige Wundflächen mit einem enormen Blutverlust.“ Heute ist es umgekehrt: chirurgische Qualifikation wird auch an der Fähigkeit zum möglichst filigranen, eben minimalinvasiven Operieren gemessen.

Auf Strahlenschutz wird extrem geachtet

Beim Chefarzt. Ernst Weigang (r.) erklärt den Patienten Manfred Köppen (l.) und Rolf Kreibich ein Aneurysma-Modell.
Beim Chefarzt. Ernst Weigang (r.) erklärt den Patienten Manfred Köppen (l.) und Rolf Kreibich ein Aneurysma-Modell.

© Thilo Rückeis

Dann erklärt er mir den OP-Raum: „Es ist ein Hybrid-Saal, was bedeutet: Sowohl offene als auch minimalinvasive Eingriffe sind hier möglich. Die Einrichtung eines solchen Saals habe er zur Bedingung gemacht, als er die Chefarztstelle am Krankenhaus Hubertus angeboten bekam. Alles ist mit hoch moderner HighTech ausgestattet, der Operationstisch zum Beispiel ist „free-floating“, bewegt sich nahezu organisch mit den Handgriffen des Operateurs. Zur Qualitätssicherung werden sämtliche OP-Daten aufgezeichnet und die gesamte Anlage monatlich technisch überprüft. „Auf den Strahlenschutz für Patienten und Mitarbeiter wird bei uns extrem geachtet“, erklärt Professor Weigang, während er sich Bleiglasbrille, Bleikappe, -weste und -schürze wieder auszieht. Noch vor einigen Jahrzehnten seien viele Radiologen an Krebs erkrankt, diese Zeiten sind lange vorbei.

Rund 14 000 Operationen eines Bauchaortenaneurysmas werden in Deutschland jährlich vorgenommen. Am Gefäßzentrum Berlin-Brandenburg des Krankenhauses Hubertus waren es im letzten Jahr 166, so viel wie – nach eigenen Angaben – an keinem anderen Gefäßzentrum in der Region. Die Dunkelziffer nicht entdeckter Aneurysmen ist übrigens um ein Vielfaches höher, Weigang schätzt sie auf 100 000 in Deutschland. Oft stößt man durch Zufall auf Aneurysmen, wie bei Manfred Köppen, den Weigang im August 2015 operiert hat. „Eigentlich war ich wegen Rückenschmerzen beim Röntgen, dann hat man das Aneurysma festgestellt“, erzählt Köppen. Den Eingriff erlebte er bewusst mit, da er nur lokal betäubt war. Was bei Patienten, die durch Begleiterkrankungen gefährdet sind, durchaus möglich ist. Kampfsport wie früher kann der 74-Jährige heute zwar nicht mehr machen, aber ansonsten fühlt er sich völlig fit und spürt nichts von der Stentprothese in seiner Bauchschlagader.

Es gibt auch kindskopfgroße Aneurysmen, die sich schon sichtbar durch die Bauchdecke wölben

Bei einem weiteren Patienten von Ernst Weigang waren die Probleme schon länger bekannt. Rolf Kreibich, 79, sagt: „Ich verdanke mein Leben vor allem meiner klugen Frau.“ Die war es nämlich, die ihn immer wieder zur Untersuchung geschickt hat. Zehn Jahre lang wurde er am Krankenhaus Hubertus durch die Angiologen mit Ultraschall beobachtet. Das ist gar nicht ungewöhnlich, viele Aneurysmen werden nicht sofort operiert, sondern erst dann, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben. Als Grenzwert gilt ein Durchmesser von rund fünf Zentimetern, aber Weigang hat schon alles gesehen, auch kindskopfgroße Aneurysmen: „Die wölben sich schon sichtbar durch die Bauchdecke, wenn die Patienten zu uns kommen.“ Kreibich war beruflich viel unterwegs, auf allen Kontinenten und wollte sichergehen, dass er nicht irgendwo im Ausland auf dem flachen Land oder in der Prärie plötzlich operiert werden muss. Der Eingriff erfolgte bei ihm im März 2016, in Vollnarkose: „Ich wollte nichts mitkriegen und habe schon lange keinen so guten Tiefschlaf mehr gehabt“, erzählt er schmunzelnd. Radfahren, Tennis, alles geht heute wieder, Beschwerden hat er keine.

Noch etwas war anders bei Kreibich: Gleich zwei Aneurysmen hintereinander machten ihm zu schaffen. „In seinem Fall mussten wir besonders lange Prothesen auswählen“, erklärt Ernst Weigang. Aber auch das ist nicht so außergewöhnlich, wie es klingt. Aneurysmen können hochkomplex ausgeprägt sein, manche Patienten leiden an fünf oder mehr von ihnen gleichzeitig. Der Chirurg muss dann bis zu acht Prothesen einsetzen. Eine weitere Herausforderung: Im Bereich des Aneurysmas gehen meist eine Reihe kleinerer Arterien von der Aorta ab, die natürlich nicht überdeckt werden dürfen, um den Blutfluss weiterhin zu gewährleisten. Heißt: In die Prothese müssen kleine Fenster eingearbeitet werden, die passgenau an der Stelle sitzen, an der die entsprechende Arterie abgeht. Eine hohe Kunst – die man am Gefäßzentrum Berlin-Brandenburg sehr gut beherrscht.

Ernst Weigang hat innerhalb des Zentrums 2015 zusätzlich das Aortenzentrum am Hubertus Krankenhaus gegründet. Er begrüßt den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses von 2016, dass Männer ab 65 Jahren einmal im Leben Anspruch auf ein Vorsorgeultraschall zum Ausschluss eines Bauchaortenaneurysmas haben. „Jetzt kämpfen wir gemeinsam mit den gefäßmedizinischen Fachgesellschaften darum, dass das auch auf Frauen ausgeweitet wird“, sagt er. Denn auch die sind gefährdet, wenn auch weniger: Zwei Drittel aller Aneurysmen-Patienten sind männlich. Warum? Ernst Weigang führt es aufs Rauchen zurück, einen der wesentlichen Risikofaktoren neben Bluthochdruck und erhöhten Fett- und Zuckerwerten. Wichtig ist ihm aber vor allem eines: Dass die Gefährlichkeit eines Aneurysmas einer breiten Bevölkerung bewusst wird. Egal welchen Geschlechts.

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