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Ulrich Davids leitet das Herrenwohnheim in der Nostizstraße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spendenserie "Menschen helfen!": Am Ende der Straße

Im Männerwohnheim in der Kreuzberger Nostitzstraße finden schwer alkoholkranke Obdachlose ein letztes Zuhause. Jetzt hofft die Einrichtung auf Spenden, um ihre Bewohner auch im Sterben angemessener und würdevoller begleiten zu können.

Von Maris Hubschmid

Wer hierher einzieht, wird zuallererst gebadet oder geduscht. Sämtliche Kleidungsstücke, die er am Leib trägt, wandern in den Müll. Viele Neuankömmlinge haben offene Wunden, in die manchmal schon die Strümpfe eingewachsen sind. Dann wird gewaschen, gesalbt, verbunden.

Das Herrenwohnheim in der Kreuzberger Nostitzstraße ist ein unauffälliger Zweckbau, fünfstöckig, blauweiße Fassade. Hier leben 46 Männer, allesamt Alkoholiker, der jüngste von ihnen ist 40, der älteste 78. Jeder zweite von ihnen ist ein Pflegefall. Viele überfordert die bloße Frage, wie viele Entzüge sie gemacht haben. „Die Männer, die bei uns landen, gelten als austherapiert“, erklärt Ulrich Davids, der Leiter der Einrichtung, die von der evangelischen Heilig-Kreuz-Gemeinde unterhalten wird. Weil man den Betroffenen die Kraft abspricht, ihre Sucht zu bekämpfen, versucht niemand mehr, sie zu therapieren. Sie dürfen trinken, so viel sie wollen. Ein „suchtakzeptierendes Modellprojekt“, das in Berlin einzigartig ist, deutschlandweit Beachtung erfährt – und auf Spenden hofft.

Fast alle, die hier unterkommen, haben vorher auf der Straße gelebt. Die unterschiedlichsten Wege haben sie hergeführt. Da war der Maler, dessen Bilder im Bundestag hingen. Ein anderer war früher Manager bei Siemens. Alkoholismus gibt es in allen Altersklassen und allen gesellschaftlichen Schichten. Die Schicksale aber ähneln sich: „Job verloren, Kind gestorben, Frau gestorben, aus der Bahn“, fasst der Heimleiter zusammen. Dem Alkohol verfallen. Die Miete nicht bezahlt.

Häufig werden Männer nach einem Krankenhausaufenthalt ins Heim vermittelt, in anderen Fällen sind es die Bezirksämter, die darum bitten, jemanden aufzunehmen. Oder Mitarbeiter von Suppenküchen und Notunterkünften stellen den Kontakt her.

Viele haben Diabetes, leiden unter Leberzirrhose

Vier Doppel- und 38 Einzelzimmer gibt es im Haus, acht bis 22 Quadratmeter groß. Jede Etage hat eine eigene Kochnische und ihren eigenen Ansprechpartner. Rund um die Uhr ist ein Sozialarbeiter anwesend. Auch ein Krankenpfleger gehört zum Team. Im Erdgeschoss wohnen die, denen man schon Beine hat abnehmen müssen. Viele Alkoholiker haben Diabetes, leiden unter Leberzirrhose. Bei anderen versagen Herz, Milz, Niere. 78, sagt Heimleiter Davids, sei schon „ein verdammt hohes Alter für einen richtigen Alkoholiker“. Im Sommer haben sie hier das 20. Jubiläum gefeiert, und so lange ist noch kein Bewohner dabei. Vergangenes Jahr wurden auf dem nahen Gemeindefriedhof vier Männer aus dem Heim beerdigt, dieses Jahr starben drei.

Der helle Holzschrank im Gemeinschaftsraum, auf dem jetzt ein Strauß behängter Tannenzweige steht, wird regelmäßig zum Altar. Erst vor wenigen Wochen stand darauf ein gerahmtes Foto, eine Kerze, daneben lag das Kondolenzbuch. Detlef wurde 69. Manchmal geht es schnell. Jemand fällt, schlägt mit dem Kopf ungünstig auf. Bei anderen ist das Sterben ein monatelanger Prozess.

Nach Jahren ohne Zuhause finden viele im Wohnheim endlich wieder Geborgenheit. „Das hier ist meine Heimat geworden, hier möchte ich sterben“, sagt einer von ganz oben, den sie auf seinen Wunsch nur den „Eisbär“ nennen. Vor ein paar Jahren hat er die Diagnose Schilddrüsenkrebs bekommen. Also bemühen sich Ulrich Davids und seine Kollegen, die Männer möglichst lange im Heim zu versorgen. Bisher sind sie auf Sterbebegleitung jedoch nur bedingt eingerichtet.

„Es fehlt an Pflegebetten“, sagt Davids. Zunächst hatten die Mitarbeiter überlegt, im Erdgeschoss ein geräumiges Sterbezimmer einzurichten, mit Blick in den Baum vor dem Fenster. Aber einen Sanitäranschluss in den bisher als Lager genutzten Raum zu legen, würde mehr als zehntausend Euro kosten – „außerdem haben wir gemerkt, dass die Männer lieber in ihrer vertrauten Umgebung bleiben wollen“.

Stattdessen haben sie eine Liste von Utensilien erstellt, die je nach Bedarf eingesetzt werden und die Sterbebegleitung erleichtern sollen. Einige Männer haben es sich in ihren vier Wänden richtig gemütlich gemacht, mit Bildern, Grünpflanzen und Salzkristalllampe. Andere Zimmer sind nur spärlich möbiliert. „Sanftes Licht, eine kleine Anlage für Musik, vielleicht Duftöle, damit könnte man schnell eine behaglichere Atmosphäre schaffen“, sagt Davids. Eine Art mobilen Wasch- und Hygienewagen wollen sie zusammenstellen. Und damit niemand stundenlang auf der Bettkante sitzt, steht auch ein bequemer Sessel auf der Wunschliste. „Vor allem aber brauchen wir dringend Dekubitusmatratzen, damit sich die Männer nicht wund liegen.“

Der Bezirk zahlt für jeden Bewohner ein Tagegeld. Die Sozialhilfe, die den Männern darüber hinaus zusteht, können sie sich zum Monatsanfang oder in täglichen Raten auszahlen lassen. Beliebteste Anlaufstelle ist die Tankstelle in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Heimmitarbeiter dulden den Alkohol, aber sie tragen ihn nicht herbei.

Am Stammtisch gegenüber der automatischen Eingangstür und dem Fahrstuhl prosten die Männer einander zu, reißen Witze oder erzählen sich, was sie an diesen Ort geführt hat. Ein 51-Jähriger sagt: „Hat sich ja jeder mal was anderes ausgemalt.“ Wann wird aus geselligem Trinken eine zerstörerische Krankheit? In Berlins Nachtleben geht kaum etwas ohne Wein, Bier, Sekt. Alkohol ist die Droge, mit der fast alle spielen.

Manche verbergen den Alkoholismus erstaunlich gut. Andere übersehen ihn erstaunlich lange. Einer erzählt, wie er sich Ziele setzte: Nicht mehr als vier Flaschen am Tag. Nicht mehr als sechs.

Die meisten haben keinen Kontakt mehr zu Angehörigen

Die meisten im Heim eint, dass sie den Kontakt zu Frau, Sohn, Tochter und sonstigen Angehörigen verloren haben. Nur selten fragt eine Stimme am Telefon: „Wohnt mein Vater bei Ihnen?“ Einigen reicht die Gewissheit: Der Vater ist versorgt. Anderen reicht die Gewissheit: Der Vater ist ein Penner und Säufer. Sie rufen kein zweites Mal an.

Nur für wenige trifft zu Weihnachten ein Päckchen ein. „Das Jahresende ist eine schwierige Zeit im Haus“, sagt Ulrich Davids. Da kommen Erinnerungen hoch. Die Stimmung ist gedrückt. Umso mehr bemühen sich die Mitarbeiter, die Feiertage zu solchen zu machen. Mit Kaffee und Kuchen, Kartoffelsalat und Würstchen, einem kleinen Gottesdienst. Am 25. Dezember wollen sie Gans mit Rotkohl und Klößen essen, für den zweiten haben sich die Männer Gulasch gewünscht. Silvester gibt es Häppchen und Tischfeuerwerk. Erfolg haben sie nicht, gesund werden sie kaum mehr werden. Aber Glück wünschen sich doch alle.

Zu Intensivstationen wird Nicht-Angehörigen der Zutritt verwehrt. „Wenn wir am Ende nicht die Hand halten, tut es im Zweifel keiner“, sagt Ulrich Davids. Auch deshalb setzen sie sich in der Nostitzstraße dafür ein, dass die Männer im Wohnheim sterben dürfen. Bereits jetzt arbeitet die Einrichtung eng mit dem Klinikum Neukölln und einer Palliativärztin des nahen Urbankrankenhaus zusammen. Künftig soll sich eine siebenköpfige Gruppe von Sterbebegleitern regelmäßig im Haus treffen. Menschen, die Erfahrung mit Seelsorge und Hospizarbeit haben.

Ulrich Davids sagt: „Alle Mitarbeiter geben jeden Tag ihr Bestes, damit diese Männer, von denen viele schon viel Unglück erlebt haben, nicht Kälte und Verwahrlosung ausgesetzt sind.“ Ein würdevolles Leben auch für diejenigen, deren Leben aus der Bahn geraten ist, das ist der Anspruch.

Mithilfe von Spenden könnte bald auch die allerletzte Phase eines solchen Lebens würdevoller gestaltet werden. Geschätzt 20 000 bis 30 000 Obdachlose gibt es in Berlin. Alkohol ist vielen der treueste Begleiter. Die Warteliste ist lang.

Mit der neuen, nunmehr 26. Spendenaktion „Menschen helfen!“ und der gleichnamigen Spendenserie zum Weihnachtsfest sammeln wir erneut für 63 Projekte und Vereine, vor allem aus Berlin und Brandenburg. Außerdem sammeln wir für Hilfsprojekte zur Beseitigung von Fluchtursachen und für bessere Lebensbedingungen in armen Ländern mit unserem internationalen Partner Deutsche Welthungerhilfe. Das Spendenkonto: Bitte spenden Sie an: Empfänger: Spendenaktion der Tagesspiegel e.V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse, BIC BELADEBE, IBAN DE43 10050000 0250 0309 42. Online-Banking ist ebenfalls möglich. Spendenbeleg: Bitte notieren Sie vollständig und gut leserlich Namen und Anschrift, sonst bekommt der Tagesspiegel Probleme mit der Zusendung der Spendenbescheinigungen.

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