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Angst vor Abschiebung. Wali Yousafzai (2.v.r.) und seine Landsleute aus Afghanistan würden gerne weiter die Freie Waldorfschule in Cottbus besuchen.

© Marlies Kross

Abschiebungen in Berlin und Brandenburg: Wenn die gehen sollen, die gerade richtig angekommen sind

Seit Wochen häuften sich negative Bescheide für junge Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und sogar Syrien. Überall in Berlin und Brandenburg engagieren sich Menschen gegen Abschiebungen.

Von Sandra Dassler

Ein zehnjähriges Mädchen rennt in panischer Angst vor einem Polizisten davon. Es hat nichts Böses getan, nur in diesem Land Schutz gesucht, der ihm nach Ansicht der Behörden nicht zusteht ...

Am Sonnabend hatte die Kinderoper „Flüchtling“ am Cottbuser Staatstheater Premiere - und Wali Yousafzai verfolgte sie mit gemischten Gefühlen. Er kennt diese Angst nur zu gut. Dabei ist der Afghane doppelt so alt wie das Mädchen. Meist trägt er ein rot-schwarzes Kapuzenshirt mit dem Emblem des FC Energie Cottbus. Das ist zwar nicht Bayern München, aber wenigstens die Vereinsfarben sind ähnlich. Und Cottbus könnte Walis neue Heimat werden, wenn er als Flüchtling anerkannt würde. Doch das ist relativ unwahrscheinlich.

In seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat Wali seine Geschichte erzählt: Dass er aus der nordafghanischen Provinz Kundus stammt, wo er mit neun Geschwistern aufwuchs. Dass Taliban-Kämpfer in sein Dorf gekommen seien, um ältere Jungen zwangsweise zu rekrutieren. Dass er sich weigerte, deshalb misshandelt wurde und – weil er wusste, dass die Taliban immer wieder kommen würden – mit zwei älteren Brüdern geflüchtet sei. Im Oktober 2015 kam Wali in Deutschland an, seine Brüder habe er in den iranischen Bergen verloren, erzählte er. Doch die Beamten beim Bamf glaubten ihm nicht, halten ihn für einen Wirtschaftsmigranten. Im Februar 2017 stellte die Behörde Walis Abschiebebescheid aus.

Da besuchte er fast schon ein Jahr lang die Freie Waldorfschule in Cottbus, die mehrere afghanische Flüchtlinge aufgenommen hat. Walis Klassenkameraden waren entsetzt. „Wir wussten ja aus seinen Erzählungen und aus den Medien, dass Kundus alles andere als sicher ist“, sagt der 17-jährige Vincent Rau. „Deshalb haben wir beschlossen, ihm zu helfen.“

70.000 Unterschriften gegen Walis Abschiebung

Die Waldorfschüler sammelten Geld, um einen Anwalt zu bezahlen, und starteten eine Petition bei der Online-Plattform change.org, um Walis Abschiebung zu verhindern. Und nicht nur seine. „Jetzt haben noch zwei weitere Mitschüler ihre Abschiebebescheide erhalten“, sagt die 19-jährige Manja Rostek, die einen berührenden Text über Walis Schicksal ins Internet stellte.

Natürlich finden nicht alle das Engagement der Schüler gut. „Was manche in den sozialen Medien für Hasssprüche loslassen, ist schlimm“, sagt der 19-jährige Simon Roskos. „Dabei sterben in Afghanistan täglich Menschen bei Anschlägen, auch wenn die Bundesregierung erklärt, dass es dort sichere Gebiete gibt.“

Die Fragen der Waldorfschüler an Bundes- und Landesbehörden wurden abgewimmelt. „Man verwies uns an die Ausländerbehörde der Stadt“, sagt Simon Roskos. „Die beruft sich auf die Rechtslage und dass das eben Demokratie sei. Aber ich glaube eher, das, was wir hier machen, ist Demokratie“.

Immerhin haben mehr als 70.000 Menschen die Online-Petition unterschrieben. Und in Cottbus gibt es viel Unterstützung, wie vom Staatstheater, wo die Waldorf-Schüler anlässlich der Premiere von „Flüchtling“ ihr Projekt präsentieren. Lucio Gregoretti nennt seine Oper, in der eine Schulklasse ein Flüchtlingsmädchen retten will, ein „optimistisches und tröstliches Märchen“.

Doch nicht nur in Cottbus hat die Wirklichkeit die Kunst längst überholt. An vielen Orten engagieren sich Menschen für Flüchtlinge, die abgeschoben werden sollen: In Eberswalde setzt sich die Stadtkirchengemeinde für einen jungen Somalier ein, der vor der Abschiebung ins Kirchenasyl geflüchtet war.

„So einen guten Azubi hatten wir noch nie“

In Berlin haben Lehrer am Oberstufenzentrum Weißensee mehr als hundert Unterschriften von Kollegen aus der ganzen Stadt gesammelt und einen offenen Brief verfasst. Seit Wochen häuften sich die negativen Bescheide für Jugendliche aus Afghanistan, dem Irak und sogar Syrien, beklagen sie: „Die momentane Situation ist für unsere Schüler unerträglich. Jeden Tag sehen wir, wie sich ihr psychischer Zustand verschlechtert, weil sie die Angst vor der drohenden Abschiebung plagt“.

Obwohl alle eine existenzielle Bedrohung erlebt hätten, erhielten sie kein Bleiberecht. Die Lehrer plädieren dafür, „unsere Schülerinnen und Schüler nicht abzuschieben“, auch weil viele Deutsch gut genug sprechen, um eine Ausbildung zu beginnen, und meinen: „Dieser plötzliche Umschwung hin zu einer rigorosen Abschiebepraxis erscheint uns politisch willkürlich, moralisch fragwürdig und wirtschaftlich unsinnig“.

Genauso empfindet das auch Emile Weisner, Geschäftsführer der Berliner Allround-Autovermietung. Seine Firma suche händeringend nach Lkw-Schlossern, erzählt er. Deshalb sei er froh, dass Maythem Faris, ein Flüchtling aus dem Irak, seit eineinhalb Jahren eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker macht. „Er spricht hervorragend Deutsch und hat echt Ahnung vom Fach. So einen guten Azubi hatten wir noch nie“, sagt Weisner. Doch auch Maythem Faris wurde jetzt aufgefordert, Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen.

Die spezialisierten Anwälte sind völlig überlastet

Emile Weisner hat sofort versucht, einen Anwalt einzuschalten. „Aber das ist derzeit gar nicht so leicht in Berlin“, sagt er. „Die darauf spezialisierten Anwälte sind völlig überlastet.“ Letztlich hatte Weisner Erfolg, eine Klage wurde eingereicht, obwohl niemand abgeschoben werden kann, der in Ausbildung ist. „Ihn nach der Ausbildung abzuschieben ist ja noch unsinniger“, sagt Weisner. „Menschen wie Maythem, die sich so gut integrieren, sollten auf jeden Fall bleiben können. Zumal wir nach wie vor Schlosser brauchen.“

Auch Wali Yousafzai an der Cottbuser Waldorfschule würde gern Automechaniker werden. Und hierbleiben. In Brandenburg hat er schlechtere Karten als seine Landsleute in Berlin. Während aus der Hauptstadt bislang niemand nach Afghanistan abgeschoben wird  – es sei denn, er ist Straftäter oder Gefährder – hat Brandenburg kürzlich erstmals einen Mann ins Flugzeug nach Kabul gesetzt.

Wenn Wali Geld verdienen könnte, würde er es seiner Familie in Kundus schicken, sagt er. Und sich vielleicht mal eine Karte für ein Fußballspiel mit Manuel Neuer leisten, der sein Vorbild ist. „Manuel Neuer ist der Beste“, sagt Wali. „Aber Cottbus ist auch sehr gut.“ Er schaut auf sein Kapuzenshirt und dann auf Manja, Simon, Vincent und die anderen aus seiner Klasse: „Hier gibt es gute Menschen.“

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