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 Der ehemalige Gasometer der Gasag überragt die Häuser in der Hauptstraße in Berlin-Schöneberg. Über Jahre wurden in dem Bau TV-Talkshows aufgezeichnet, mittlerweile ist ein neues Quartier entstanden.

© Rainer Jensen/dpa

75 Visionen für Berlin – Folge 31: "Berlin wird Zukunftsort für Industrie und Kultur"

Von Gesundbrunnen bis Schöneweide: Die Stadt hat so viele Wirtschaftsdenkmäler. "Nutzen wir sie!", schreibt unser Gastautor

Einer der gängigen, aber wirtschaftspolitisch dümmsten Sätze, der mir in Berlin immer wieder begegnet, lautet: „Berlin hat ja keine Industrie, dafür aber Kultur und Tourismus“. Als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und zugleich Sprecher für Kultur wie auch für Tourismus kritisiere ich diese Aussage in doppelter Hinsicht.

Zum einen ist Berlin nach wie vor ein Industriestandort, dessen Produkte auf den Weltmärkten regen Absatz finden und ein jährliches Exportvolumen von rund 15 Milliarden Euro generieren. Gewiss ist die industrielle Basis der Stadt verglichen mit der Vorkriegssituation eine schmalere, und auch im gegenwärtigen Vergleich mit anderen Wirtschaftsregionen in der Bundesrepublik hinsichtlich des Anteils der Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt eher unterdurchschnittlich. Doch der Modernisierungsschub der letzten fünfzehn Jahre hat Berlin von einer „verlängerten Werkbank“ wieder zu einem konkurrenzfähigen Industriestandort werden lassen. Dieser Aufholprozess ist weiter in vollem Gange – vor allem getrieben von einer exzellenten Forschungslandschaft und eben auch der Kultur als Standortfaktor.

Frank Jahnke wurde im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf 4 in Abgeordnetenhaus gewählt. Er ist seit 2001 im Parlament und wirtschafts- und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Frank Jahnke wurde im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf 4 in Abgeordnetenhaus gewählt. Er ist seit 2001 im Parlament und wirtschafts- und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

© Christian Jacob

[Der Autor Frank Jahnke, geboren 1957 in Berlin, ist Diplom-Volkswirt und Sprecher für Wirtschaft und Kultur der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus.]

Zum zweiten wird man der Kultur in dieser Stadt aber nicht gerecht, wenn man sie zu einem Wirtschaftsfaktor degradiert. Zweifelsohne gibt es in Berlin ein immenses Potential kreativer Menschen aus aller Welt, die hier in den unterschiedlichsten Sparten der Kultur- und Kreativwirtschaft Werte schaffen, die zum Teil auch in Wirtschaftsleistung münden. Darüber hinaus stellt Kultur aber weitaus mehr für Berlin dar als einen messbaren Anteil am Bruttoinlandsprodukt oder einen „weichen Standortfaktor“, sondern Kultur gehört zur DNA dieser Stadt, hier wurde seit über zweihundert Jahren Kultur geschaffen, gedacht und Kulturgeschichte geschrieben!

[Alle Beiträge der Serie "75 Visionen für Berlin" finden Sie hier.]

An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr industrielle und kulturelle Entwicklung der Stadt Hand in Hand gingen und gehen. Die mannigfaltige kulturelle Blüte Berlins nach dem Ersten Weltkrieg zum Beispiel ist nur parallel mit der gleichzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung denkbar – sei es in der aufstrebenden Filmindustrie, aber auch genauso in der Bildenden Kunst, im Theater oder in der Literatur. Die Architektur der Stadt ist selbstverständlich gebaute Kultur, im Wohnungsbau ebenso wie bei der Industriearchitektur.

Die Rathenau-Hallen der ehemaligen AEG in der Wilhelminenhoftstraße in Oberschöneweide im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick.
Die Rathenau-Hallen der ehemaligen AEG in der Wilhelminenhoftstraße in Oberschöneweide im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick.

© imago/Jürgen Ritter

Die im 19. und 20. Jahrhundert gewachsene Topographie Berlins ist geprägt vom Prozess der sukzessiven Industrialisierung. Am Gesundbrunnen wie in Schöneweide, in Siemensstadt wie in Moabit und andernorts bestimmen bis zum heutigen Tag grandiose Industriebauten von Peter Behrens, Hans Hertlein und anderer bedeutender Architekten den Stadtraum Berlins. Vielfach findet in diesen Gebäuden nach wie vor Produktion statt, aber auch kreativwirtschaftliche, künstlerische und wissenschaftliche Nutzung – beispielsweise auf dem ehemaligen Areal der AEG in Schöneweide, wo nicht nur die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in den Industriebauten arbeitet, sondern auch Kunstschaffende und moderne Unternehmen Platz finden.

Hier zeigt sich exemplarisch, wie die Wirtschaft Berlins aus den alten industriellen Kernen heraus neu entsteht. Meine Vision für Berlin ist nicht der „morbide Charme“ verfallender Industriebauten, sondern die Nutzung der enormen Potentiale, die in den klassischen Industriearealen stecken. Unter SPD-Führung haben wir in den letzten beiden Jahrzehnten das Konzept der Zukunftsorte konsequent entwickelt, also von Standorten, an denen Wirtschaft und Wissenschaft eng zusammenarbeiten, wo Forschungsinstitute und Hochschulen die Basis für Produktentwicklung und moderne Produktion schaffen. Adlershof und Buch waren die ersten beiden Zukunftsorte Berlins, inzwischen sind es elf Standorte, die der Senat ausweist.

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Am Campus Charlottenburg rund um die TU und die UdK, auf dem EUREF-Gelände am Gasometer in Schöneberg, aber auch in der neu entstehenden „Urban Tech Republic“ auf dem ehemaligen Flughafen Tegel wird dieses Konzept umgesetzt. Mit dem Projekt „Siemensstadt 2.0“ entwickelt Berlin gemeinsam mit dem Unternehmen Siemens ein neuartiges Stadtquartier für Produktion, Forschung und Wohnen auf klassischen Industrieflächen unter behutsamer Einbeziehung der wertvollen Gebäudesubstanz.

Gastautor Frank Jahnke spricht bei der Plenarsitzung am 11. Februar 2021 im Berliner Abgeordnetenhaus. Er spricht für die SPD-Fraktion zu den Themen Wirtschaft und Kultur.
Gastautor Frank Jahnke spricht bei der Plenarsitzung am 11. Februar 2021 im Berliner Abgeordnetenhaus. Er spricht für die SPD-Fraktion zu den Themen Wirtschaft und Kultur.

© Annette Riedl/dp

Die Industriegeschichte Berlins ist zugleich aber auch selbst Gegenstand kultureller und touristischer Nutzungen. Der Begriff Industriekultur wurde bereits vor gut 100 Jahren durch den vorausschauenden Publizisten Karl Scheffler geprägt. Das Berliner Zentrum für Industriekultur (BZI) mit Sitz in Oberschöneweide hat es sich zur Aufgabe gemacht, die industriellen Potentiale Berlins in Publikationen und Erlebnisrouten zu Fuß oder per Rad erfahrbar zu machen. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der „Industriesalon Schöneweide“, der anhand von Originalobjekten die Berliner Industriegeschichte anschaulich vergegenwärtigt.

Nicht Kultur und Tourismus anstelle von Industrie – wie eingangs zitiert – kann die Vision für Berlin sein, sondern die Entwicklung eines zukunftsträchtigen Industrie- und Wirtschaftsstandorts Berlin unter gleichzeitiger Nutzung der kulturellen und touristischen Potentiale!

Frank Jahnke

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