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Die Notfallseelsorge kümmert sich um Menschen in Ausnahmesituationen.

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25 Jahre Berliner Notfallseelsorge: Wenn der Tod kommt, gerät die Welt aus den Fugen

Deshalb kümmern sich die Mitarbeiter der Berliner Notfallseelsorge und Krisenintervention seit 25 Jahren um Menschen in Ausnahmesituationen.

Von Sandra Dassler

Am Anfang war die Not. Sagt Horst Brandt. Der Autor und pensionierte Kriminaldirektor hat lange Jahre das Dezernat „Delikte am Menschen“ bei der Berliner Polizei geleitet. Oft musste er Angehörigen – auch Frauen, Kindern oder Hochbetagten – die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen überbringen.

„Das war sehr schwer“, sagt der heute 81-Jährige: „Vor allem für die Betroffenen, aber manchmal auch für mich. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, wenn ich sie allein zurück lassen musste, weil keine Familie und keine Freunde da waren. Doch in den 70er, 80er Jahren gab es noch keine Notfallseelsorge.“

Also musste Horst Brandt sie erfinden.

„Bei der Mordkommission fehlte mir dafür die Zeit“, erzählt er: „Aber dann kam der Mauerfall und nach dem Abschied der Alliierten bekam ich den Auftrag, für ganz Berlin den Katastrophenschutz aufzubauen. Dadurch lernte ich die richtigen Leute kennen.“ Weil sich Pfarrer schon immer um die seelischen Belange von Menschen kümmern, suchte Brandt bei ihnen nach einem Verbündeten und fand ihn in dem Tegeler Gefängnisgeistlichen Vincens.

Gemeinsam entwickelten die beiden ab Anfang der 90er Jahre ein Konzept, wie Pfarrer bei Notsituationen zum Einsatz kommen könnten. „Geholfen haben dabei vor allem der frühere Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky sowie der damalige Polizeipräsident Hagen Saberschinsky und Feuerwehrchef Albrecht Broemme“ sagt Horst Brandt.

5000 Einsätze in den vergangenen 25 Jahren

Am 17. Januar 1995 wurde die Berliner Notfallseelsorge erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Dazu gesellten sich bald auch Psychologen und Sozialarbeiter, die als Kriseninterventionshelfer die gleichen Aufgabe wie die Kirchenleute übernahmen: Menschen, die in psychischen Ausnahmezuständen sind, zur Seite zu stehen.

„Inzwischen gehören mehr als 160 haupt- und ehrenamtliche Helfer zum Team“, sagt Pfarrer Justus Münster, der Beauftragte der Evangelischen Kirche für die Notfallseelsorge in Berlin: „Sie haben in den vergangenen 25 Jahren mehr als 5000 Einsätze gehabt.“

Horst Brandt baute für ganz Berlin den Katastrophenschutz auf und hatte die Idee für die Berliner Notfallseelsorge.
Horst Brandt baute für ganz Berlin den Katastrophenschutz auf und hatte die Idee für die Berliner Notfallseelsorge.

© privat

Die meisten davon betrafen die Betreuung von Menschen nach dem Tod eines Angehörigen, ergänzt Norbert Verse, der die Notfallseelsorge für die katholische Kirche koordiniert. Er kam 1997 nach Berlin und hatte schon Erfahrungen mit dem sogenannten Unfall-Nachfolgedienst im Rheinland gesammelt.

Forderungen an die Berliner Politik

„Früher galt das Motto: Retten, bergen, löschen. Man versorgte die physischen Verletzungen und begann erst langsam zu begreifen, dass Menschen auch schwere psychische Verletzungen haben konnten“, sagt Verse. Das gelte auch für die Rettungskräfte selbst. „Tote und Verwundete tagtäglich zu sehen, ist nicht leicht. Erschwerend hinzu kommt inzwischen oft noch das Verhalten von Gaffern, Autofahrern, die keine Gasse bilden oder Jugendlichen, die Retter sogar angreifen.“

Verse dankt Feuerwehr und Polizei ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit, denn sie entscheiden letztlich, ob Seelsorge und Krisenintervention angefordert werden. Von der Berliner Politik wünscht er sich trotzdem gesetzliche Regelungen, um die sogenannte Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) zu einem festen Bestandteil der Alarmierung zu machen.

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Dies könnte etwa durch die Festlegung von Kriterien im Rettungsdienst- oder im Katastrophenschutzgesetz erfolgen. Oder gar in einem eigenen PSNV-Gesetz: „Die meisten denken zwar daran, die Notfallseelsorge einzubeziehen, aber letztlich obliegt das immer noch der Einschätzung des jeweiligen Verantwortlichen. Diese Beliebigkeit sollte man beenden.“

Betreuung unabhängig von Konfession oder Herkunft

„Dass die Betreuung von Menschen in Ausnahmesituationen unabhängig von Konfession oder Herkunft erfolgt, war von Anfang an selbstverständlich“, sagt Horst Brandt: „Bereits seit 1996 beteiligten sich auch jüdische Sozialarbeiter an der Notfallseelsorge und seit dem großen Erdbeben 1999 haben wir versucht, auch Muslime dafür zu gewinnen.“ Das sei nicht leicht gewesen, aber schließlich durch die Zusammenarbeit mit dem türkischen Arzt Ismail Tuncay ab dem Jahr 2007 gelungen.

„Letztlich geht es immer darum als Mensch für den anderen Menschen da zu sein“, sagt Horst Brandt: „Wenn der Tod kommt, gerät die Welt aus den Fugen – egal, ob das in der Öffentlichkeit oder zu hause geschieht.“ Nutzen könne die Notfallseelsorge also jeder - allerdings nur über die Rettungskräfte von Feuerwehr und Polizei.

Spezielle Hilfen auch für die Mitarbeiter der Notfallseelsorge

So schreckliche Fälle wie sie der ehemalige Kriminaldirektor in seiner langen Laufbahn erleben musste, blieben Norbert Verse bislang erspart. Trotzdem ist er froh, dass es inzwischen auch spezielle Hilfen für die Mitarbeiter der Notfallseelsorge gibt. Denn Spuren hinterlassen die Einsätze immer.

„Wenn ich beispielsweise an einem bestimmten Haus vorbeikomme, muss ich unweigerlich an den großen Brand darin vor einigen Jahren denken“, sagt er: „Und sehe die fassungslosen Gesichter wieder vor mir. Fast die ganze Familie konnte den Flammen entkommen. Aber ein Kind hat es nicht geschafft.“

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