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Begehrte Jagdtrophäe aus dem Reich der Mythen: Das Horn eines Einhorns galt als Wundermittel..

© Metropolitan Museum of Art

Begehrtes Fantasie-Geschöpf: Auf den Spuren des Einhorns

Ein Galopp durch 2500 Jahre Kulturgeschichte zeigt, wie groß die Faszination für das behornte Fabeltier war – und wie präsent es heute noch ist.

Von Raphael Rönn

Einhörner – Geschöpfe der menschlichen Imagination. Sie sind Fantasiewesen, auch wenn Reisende seit der Antike immer wieder davon berichteten, ein scheues Exemplar gesichtet zu haben. Bis ins 18. Jahrhundert wurde ihre Existenz kaum angezweifelt. Das hat sogar zu einem großangelegten pharmazeutischen Betrug durch isländische Schieberbanden geführt.

Heute glaubt fast niemand mehr an Einhörner, verschwunden sind sie dennoch nicht: Sie erscheinen in Fantasy-Erzählungen, liegen als Plüschtiere in Kinderzimmern oder zieren allerhand Alltagsgegenstände. Ein popkultureller Hype – aber auch viel mehr als das.

Einhörner sind Teil einer mehr als 2500 Jahre alten Kulturgeschichte. Bernd Roling, Altphilologie-Professor und Wissenschaftshistoriker an der Freien Universität Berlin, hat diese Geschichte zusammen mit der Mediävistik-Professorin Julia Weitbrecht von der Universität Köln erforscht. Aber alles von Anfang an.

Eine Einhorn-Sichtung war ein Highlight in Reiseberichten

Die Ursprünge der Einhorn-Sagen sind ungewiss. „Die ersten Beschreibungen, die wir kennen, stammen aus der antiken hellenistischen Welt“, erläutert Bernd Roling. Es handelt sich dabei um erste Zoologien, Darstellungen der Fauna, die oft auch fantastische Tierwesen umfassen. Ktesias von Knidos etwa beschrieb in einem Reisebericht über Indien ein sonderbares, antilopenartiges Geschöpf, das sich durch ein langes, eindrucksvolles und wundertätiges Horn auszeichnete. Solche Beschreibungen stießen damals auf großes Interesse. Über einen langen Zeitraum hinweg wurden

Einhörner immer wieder in freier Wildbahn beobachtet, das behaupteten zumindest Reisende. Vermutlich beruhen ihre Erzählungen auf der Sichtung von Antilopen oder Nashörnern. Antike Einhörner hatten nämlich noch keine eindeutige Pferdegestalt. Sie wurden als klein, ziegenhaft und gewandt beschrieben. Sie konnten ihr Horn auch als Waffe einsetzen. Die Erwähnung dieser Kreaturen hat so manchen Reisebericht aufgepeppt.

Sicher waren sich die Wissenschaftler nicht, als sie die Fabelwesen aus ihren zoologischen Taxonomien strichen.

Bernd Roling, Professor für Altphilologie und Wissenschaftsgeschichte an der Freien Universität

Die Welt war noch nicht wissenschaftlich erfasst, nicht kartografisch vermessen. „Das Weltbild der Menschen wurde auch von Mythen durchwebt, die noch keine klare Grenzziehung zwischen Wahrheit und Fiktion zuließen, erklärt Julia Weitbrecht. Eine Zeit der Fabelwesen, Helden und Gottheiten. „Die Vorstellung von Einhörnern wirkte auf die Menschen so faszinierend, dass die Sagen weitererzählt wurden“, sagt die Mediävistin. Eine Texttradition entstand: Einhörner hielten Einzug in griechisch-römische Enzyklopädien, Zoologien sowie literarische Erzählungen, die kopiert und abgewandelt wurden.

So haben die Einhorn-Sagen die Zeit überdauert – und wurden populärer. Zur Blüte gelangten sie im europäischen Mittelalter. Neue Reiseberichte mit Einhorn-Sichtungen – etwa von Marco Polo, der vermutlich ein Sumatra-Nashorn gesehen hatte – befeuerten die zoologische Begeisterung.

Das Horn galt als Wundermittel

In vielen Schriften traten Einhörner als rätselhafte Tierwesen auf. Kaum jemand habe je eines zu Gesicht bekommen außer einige Reisende. Das Tier könne also mittelalterlichen Quellen zufolge nur schwer aufgespürt werden. Und die Jagd gestalte sich als ein noch schwierigeres Unterfangen. Im „Physiologus“, einem spätantiken Werk, das Naturkunde mit religiösen Ausdeutungen verbindet, heißt es, nur eine Jungfrau könne ein Einhorn bezähmen. Autoren aus Byzanz geben entsprechende Jagdratschläge: Wer ein Einhorn erlegen wolle, müsse eine unbescholtene Frau oder auch einen parfümierten Jüngling in Frauenkleidern als Lockmittel einsetzen. Das scheue Einhorn würde sich in den Schoß der Jungfrau legen, einschlafen und könne dann tatsächlich eingefangen und getötet werden.

Warum aber wollte man überhaupt Einhörner jagen und erlegen? In medizinischen Abhandlungen wurde ihren Hörnern eine schon fast wundertätige Wirkung zugeschrieben. „Einhorn-Hörner“ wurden auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Märkten zu höchsten Preisen gehandelt und etwa zu Trinkbechern verarbeitet, die angeblich Gift neutralisieren konnten. Ärzte verschrieben geriebenes Horn, etwa zur Behandlung von Epilepsie oder zur Geburtshilfe. Die Universalgelehrte Hildegard von Bingen schwor auf die Heilkraft des Horns.

Das Weltbild war von Mythen durchwebt, die keine klare Grenzziehung zwischen Wahrheit und Fiktion zuließen.

Julia Weitbrecht, Professorin für Mediävistik an der Universität Köln

Das Wundermittel musste aus fernen Ländern herbeigeschafft werden. Im 15. und frühen 16. Jahrhundert erschienen Reiseberichte, die Äthiopien, den Sinai, das südliche Arabien oder Indien als Heimat von Einhörnern beschrieben. Auf beigefügten Zeichnungen ähnelte das Einhorn immer mehr unserem heutigen Bild eines behornten Pferdes. Die langen Hörner, die schon im 13. Jahrhundert an Fürsten und Könige in Europa verkauft wurden, stammten allerdings von Walrössern oder Narwalen aus den Polarmeeren. „Ein

isländisches ‚Vertriebssystem‘ belieferte den europäischen Markt mit falschen Einhorn-Hörnern, die stolz in Kathedralen oder fürstlichen Wunderkammern ausgestellt wurden. Erst im 16. Jahrhundert kamen Zweifel auf“, sagt Bernd Roling. Es sei eine Debatte unter humanistischen Gelehrten entbrannt, die gegenüber der mittelalterlichen Heilkunst skeptisch waren. Den Glauben an Einhörner und ihre Wunderkraft konnte das noch nicht erschüttern.

Einhörner faszinieren bis heute

Im 17. Jahrhundert fiel dann doch die Ähnlichkeit der Einhorn-Hörner zu Walrossstoßzähnen und Narwal-Hörnern auf. Ein dänischer König setzte sogar eine wissenschaftliche Untersuchung in Gang. Der Schwindel flog auf – der Beliebtheit des Medikaments schadete das aber nicht allzu sehr. Horn-Arzneien wurden weiterhin verkauft und verabreicht, der Placebo-Wirkung sei Dank. Die Existenz von Einhörnern stand damals noch außer Frage. Zu viele Augenzeugenberichte und Quellen verwiesen auf das Wundertier. Auch Drachen und Meerjungfrauen hatten noch Platz in der Zoologie jener Zeit.

Das änderte sich allmählich im 18. und frühen 19. Jahrhundert: Das Einhorn wurde in die Welt der Fabeln und Mythen verwiesen. „Sicher waren sich die Wissenschaftler damals aber nicht, als sie die Fabelwesen aus ihren zoologischen Taxonomien strichen“, sagt Bernd Roling. Nach wie vor habe es Sichtungen gegeben: Einhörner in Äthiopien, Drachen in Rumänien und Meerjungfrauen vor der Küste Schottlands. Aber irgendwann machte die moderne Wissenschaft den Einhörnern doch den Garaus.

Aus Zoologien sind die märchenhaften Tiere inzwischen völlig verschwunden. Doch sie leben als popkulturelles Phänomen weiter. Nach wie vor üben Einhörner eine große Faszination aus. Sie begegnen uns noch immer in Kinderbüchern und Fantasy-Filmen, als Stofftiere oder Internet-Memes. Vereinzelt auch als esoterisch-spirituelle Wesen. Und als solche sind sie Teil einer jahrtausendealten, doch recht erstaunlichen Kulturgeschichte.

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