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An dieser Stelle des Volksparks Wilmersdorf wurde der Jogger im März gefunden.

© Mike Wolff

Aufgefunden im Volkspark Wilmersdorf: Wer ist der Jogger im Koma?

Vor vier Monaten stürzte ein Berliner Jogger und fiel ins Koma. Bis heute ist seine Identität ungeklärt. Die Ermittler sagen: So einen Fall gab es noch nie.

Er lag am Rand eines Schotterwegs. Bewusstlos, aber noch atmend, auf die linke Seite gefallen. Er trug eine orangefarbene Jacke und eine dunkle Jogginghose. Die Frau, die ihn fand, bemerkte das Blut in seinem Gesicht.

Ein Krankenwagen brachte ihn in die Notaufnahme. Er hatte keinen Ausweis bei sich. Die Ärzte sagten der Polizei, der Schwerverletzte werde auch die nächsten 72 Stunden nicht reden können, so lange bleibe er mindestens im künstlichen Koma. Es war Dienstag, der 13. März 2018. In die Krankenakte schrieben sie erst einmal „Unbekannt Unbekannt“. Für Vor- und Nachname.

Fast vier Monate später stehen die beiden Wörter immer noch dort. Der Jogger, der im Volkspark Wilmersdorf zusammenbrach, befindet sich weiter im Koma. Niemand vermisst ihn. Niemand hat gemeldet, dass irgendwo ein Briefkasten überquillt. Sämtliche Versuche, die Identität des Mannes herauszufinden, sind gescheitert. Die zuständigen Ermittler sagen: So einen Fall hat es noch nicht gegeben.

Er liegt weiter auf der Intensivstation der Charité. Aus medizinischer Sicht ist das nicht nötig. Er müsste eigentlich in die Reha. Doch ohne Namen kann man ihn keiner Krankenkasse zuordnen. Und ohne Kostenträger keine Überweisung. Die Sprecherin der Klinik sagt: So einen Fall hat es noch nicht gegeben.

Offenbar ist er beim Joggen kollabiert

Der Unbekannte ist zwischen 60 und 70 Jahre alt. Ungefähr 1,70 Meter groß. Weiße Haare, Zahnprothesen, keine Tätowierungen, keine Narben. Die Schwellungen im Gesicht sind längst abgeklungen. Die Ärzte glauben, er wird nie wieder reden können, selbst wenn er aus dem Koma erwachen sollte. Offenbar ist beim Joggen sein Kreislauf kollabiert, dabei stürzte er unglücklich mit dem Kopf auf einen Stein. Das beschädigte Areal seines Gehirns ist faustgroß.

Drei Kilometer nördlich der Stelle, an der man den Unbekannten fand, sitzt Kriminalhauptkommissar Uwe Dziuba in seinem Büro in der Keithstraße in Tiergarten. LKA 124, Zimmer 329, Vermisstenstelle. Hier fahnden sie nach Verschwundenen, aber auch nach Identitäten von Menschen, die selbst keine Auskunft geben können. „Unbekannte hilflose Personen“ heißen die. 52 waren es im vergangenen Jahr. Klingt viel, sagt Dziuba, aber in diese Statistik fallen auch alle Betrunkenen, die mal für eine Nacht ins Krankenhaus gebracht werden und im Vollrausch den eigenen Namen nicht mehr wissen. Und die dann wieder verschwinden, ohne sich abzumelden.

Uwe Dziuba arbeitet seit zehn Jahren im Kommissariat. Er hat in dieser Zeit viel erfahren über Anonymität und Einsamkeit in Berlin. Wie Menschen nebeneinander herleben und nicht merken, wenn einer fehlt. Eigentlich kann ihn wenig schocken, sagt er.

Uwe Dziuba arbeitet seit zehn Jahren im Kommissariat 124 des LKA. Er sagt, ihn kann wenig schocken.
Uwe Dziuba arbeitet seit zehn Jahren im Kommissariat 124 des LKA. Er hat in dieser Zeit einiges über Anonymität und Einsamkeit in der Stadt erfahren.

© Kitty Kleist-Heinrich

In Klarsichthüllen verpackt liegen auf Dziubas Schreibtisch die Gegenstände, die der Jogger am Tag seines Zusammenbruchs bei sich trug. Zwei Schlüssel am Ring, ein Bauchgürtel mit Reißverschluss. 15 Euro. Spannend ist auch, was hier nicht liegt, sagt Dziuba: ein Autoschlüssel oder ein Bahnticket. Deshalb vermutet er, dass der Unbekannte nicht weit vom Park entfernt wohnt. Auf dem Tisch liegt außerdem eine Pulsuhr. Sie lief noch, als der Jogger gefunden wurde. Zeigte zwölf Minuten an. Diese Zeit kann er durch den Park gelaufen sein, aber auch von seiner Wohnungstür zu der Unglücksstelle. Leider hat die Pulsuhr keine GPS-Funktion.

Normalerweise kommen am zweiten oder dritten Tag die Vermisstenanzeigen. Uwe Dziuba erhält sie automatisch. Es gibt auch eine bundesweite Datenbank, in der er nachsehen kann. Die meisten Fälle sind schnell gelöst.

Am einfachsten ist es, wenn der Unbekannte eine kriminelle Vergangenheit hat und seine Fingerabdrücke bereits bei der Polizei gespeichert sind. Im Fall des Joggers nahmen Beamte gleich am Fundort Abdrücke, mit einem mobilen Lesegerät. Kein Treffer.

Uwe Dziuba schrieb alle Berliner Polizeiabschnitte an. Falls sich jemand melde, der einen älteren, beim Joggen verschwundenen Mann vermisst, möge man bitte Bescheid geben. Kein Treffer.

Warum Spürhunde hier nicht helfen

Sie überlegten, ob man einen Spürhund einsetzen könnte. Die Joggingjacke war schließlich schweißdurchnässt. Könnte ein Tier die Fährte aufnehmen und die Ermittler zur Wohnung führen? Nein, sagt die zuständige Kollegin. Spürhunde sind so trainiert, dass sie immer nur von der schwächeren zur stärkeren, von der älteren zur frischeren Spur führen. Rückwärts geht nicht.

Nach 14 Tagen entschieden die Ermittler, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Uwe Dziuba fuhr ins Krankenhaus, um ein Foto vom Unbekannten zu machen. Von dessen Gesicht war nicht viel zu sehen, der Patient trug einen Verband und hatte diverse Schläuche im Mund, wurde künstlich beatmet und ernährt. Um überhaupt etwas zu erkennen, ließ Dziuba die Schläuche wegretuschieren. Er sagt: „30 Prozent des Bildes waren Photoshop.“ Außerdem war das Gesicht aufgeschwemmt von den Medikamenten. Aber besser als nichts. Sie gaben das Bild an die Presse. Druckten es auf Plakate, die sie an alle Eingänge des Parks und drinnen an die Bäume hängten. In großen Buchstaben fragten sie: „Wer kennt diesen Mann?“

Die Reaktionen, sagt Uwe Dziuba heute, waren niederschmetternd. Es gab zwei Hinweise auf konkrete Personen. Dziuba fuhr zu den angegeben Adressen, die Menschen waren wohlauf. Aus Süddeutschland meldete sich jemand, der behauptete, er habe zwei Jahre zuvor in Berlin in einer Kneipe gesessen und dort einen Mann gesehen, der dem Jogger ähnlich sehe. Ein anderer gab den Hinweis, bei dem Vorfall im Park handele es sich sicher um einen Mordanschlag des russischen Geheimdienstes.

Diese zwei Schlüssel trug der Jogger bei sich. Die Polizei fragt: Wem kommen die Modelle bekannt vor?
Diese zwei Schlüssel trug der Jogger bei sich. Die Polizei fragt: Wem kommen die Modelle bekannt vor?

© Kitty Kleist-Heinrich

Die beiden Schlüssel, die der Jogger bei sich trug, haben keine Nummern eingraviert. Das ist ungewöhnlich. Üblicherweise kann die Polizei über die Nummer den zuständigen Schlüsseldienst in Erfahrung bringen, und der kann die Adresse nennen, wo der Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür passt.

Nach einigen Wochen fuhr Dziuba erneut ins Krankenhaus, machte wieder Fotos, diesmal war das Gesicht des Patienten besser zu erkennen. Die neuen Fotos veröffentlichte die Polizei zusammen mit einer Aufnahme der beiden Schlüssel, dazu die Frage: Wer besitzt ähnliche Modelle? Wieder kein Treffer.

Der Mann war gut in Form, sagt Dziuba. Hatte nicht mal einen Bauchansatz, ungewöhnlich für das Alter. Dziuba dachte: Kann es sein, dass der sich auf den Halbmarathon Anfang April vorbereiten wollte? Er nahm Kontakt zum Veranstalter auf. Der schickte eine Liste mit den Namen aller angemeldeten Teilnehmer, die nicht zum Lauf erschienen sind. Es waren 120. Dziuba setzte sich ans Telefon. Erreichte er jemanden nicht, griff er auf die Datenbank des betreffenden Einwohnermeldeamts zu. Dort ist von jedem Bürger ein Passbild hinterlegt. Von 120 Kandidaten blieben null übrig.

Jeden Tag sichtete Dziuba die Tätigkeitsberichte seiner Kollegen.  Er hoffte, einem Nachbarn des Unbekannten könnte auffallen, dass der nicht mehr nach Hause kommt, und dass der Nachbar dann die Polizei ruft, damit sie die Tür öffnet. Das würde protokolliert in einem Bericht „Wohnungsöffnung“ oder „Verdacht Unglücksfall in Wohnungen“. Wieder kein Treffer.

Manche sind nicht sehr kooperativ

Was, wenn der Mann gar kein Berliner ist, sondern Geschäftsmann oder Tourist, sich nur in Parknähe ein Zimmer angemietet hatte, vielleicht bei Airbnb? Dziuba schrieb das deutsche Büro des Unternehmens an und fragte, ob sich in Berlin ein Vermieter gemeldet habe, dessen Kunde ohne Vorwarnung verschwunden sei und Gepäck dagelassen habe. Antwort: Man könne nicht helfen, dafür sei die Europazentrale in Irland zuständig. Dziuba schrieb erneut. Und erhielt die Antwort, er müsse schon konkret mitteilen, um welche Wohnung es sich handele...

Dziuba bekam eine Mail. Einer Frau, die 400 Meter vom Park entfernt arbeitet, war ein alter Rover am Straßenrand aufgefallen. Das Auto wurde seit Wochen nicht bewegt. Könnte dies die fehlende Spur sein? Über das Kennzeichen erfuhr Dziuba den Namen des Halters. Es stellte sich heraus, dass die Frau sich nicht getäuscht hatte. Der Wagen hatte tatsächlich lange am selben Fleck gestanden. Weil sich der Halter in einer Klinik befand. Aber wegen etwas anderem.

So sieht der Unbekannte aktuell aus.
So sieht der Unbekannte aktuell aus. Er liegt seit vier Monaten auf der Intensivstation der Charité.

© Polizei

Ein weiterer Mann schrieb, er vermisse jemanden, den er nur über das Internet kenne. Die beiden hätten jahrelang zusammen Quizduell gespielt, doch plötzlich sei „Tomschuh46“ abgetaucht. Zeitlich würde es sehr gut passen.

Uwe Dziuba geht allen Spuren nach. Dabei hat er noch andere Fälle zu lösen. Nicht identifizierte Tote zum Beispiel. 77 gab es voriges Jahr, bis auf einen wurden alle Namen ermittelt. Bei den meisten handelte es sich um Obdachlose, viele stammten aus Osteuropa. Auf Dziubas Schreibtisch liegt gerade die Akte des Toten, der im April am Alexanderplatz gefunden wurde. Er hatte Bahntickets aus Amsterdam und Paris bei sich, auch ein Parkticket einer Tiefgarage eines Hotels am Kurfürstendamm. So viele Spuren, die es zu verfolgen gilt.

Der behandelnde Arzt in der Charité fand heraus: Der unbekannte Jogger hat Diabetes. Muss man da nicht spritzen, fragte Dziuba und erfuhr, dass Zuckerkranke mit angeborener Diabetes auch medikamentös eingestellt werden können. Die müssen mehrfach im Jahr zum Arzt. Dziuba recherchierte und stieß auf die Diabetische Gesellschaft. Die war sehr kooperativ, sagt er, hat die Fotos des Unbekannten sofort an alle Diabetes-Praxen der Stadt weitergeleitet. Drei Tage später meldete sich eine Praxisgemeinschaft aus Wilmersdorf und teilte mit: „Das ist ein Patient von uns. Wir kommen nur grad nicht auf den Namen.“ Dziuba ist hingefahren, da hieß es: „Wir sind uns nicht mehr so sicher.“ Er bot der Ärztin an, sie ins Krankenhaus zu dem Mann zu fahren, Tag und Uhrzeit egal, vielleicht mache es ja Klick, sobald sie am Krankenbett stehe. Die Ärztin lehnte ab. Sie habe noch einmal über den Fall nachgedacht, sie kenne diesen Mann doch nicht. Dziuba sagt, er finde das ärgerlich, aber könne sie auch nicht zwingen. Er hat dann im Umkreis der Praxis alle Apotheken abgeklappert und seine Poster in die Schaufenster gehängt. Brachte auch nichts.

Er hat 4500 Schlüssel abgeglichen

Diese verdammten Schlüssel, sagt Uwe Dziuba. Warum haben die keine Nummern eingraviert? Vergangene Woche ist er zur Stadtreinigung gegangen. Die haben ihm alle Schlüssel gezeigt, die sie verwenden, wenn sie morgens im Gebiet rund um den Volkspark Wilmersdorf Mülltonnen leeren. Rund 4500. Kein Treffer.

Mitte Juni plötzlich eine neue Spur. Sie führte nach Sachsen-Anhalt. Dort wird südlich von Halle, in der Ortschaft Wengelsdorf, der 70-jährige Hartmut Weiske vermisst. Ende Juni vergangenen Jahres klingelte er frühmorgens bei seiner erwachsenen Tochter und sagte, er wolle sich nur kurz verabschieden, müsse für ein paar Tage fort. Er verriet nicht wohin. Seitdem hat ihn keiner mehr gesehen. Könnte es sein, dass der Mann nach Berlin ging, um dort, weshalb auch immer, unter neuem Namen zu leben?

Uwe Dziuba sagt, er habe sich ein Foto von Hartmut Weiske angeschaut. Es gab Ähnlichkeiten. Aber nur ganz grobe. Er sprach mit den Kollegen aus Halle, tauschte weiteres Bildmaterial aus. Da war bald klar: wieder kein Treffer.

Die Joggingjacke und Laufschuhe des Mannes.
Die Joggingjacke und Laufschuhe des Mannes.

© Kitty Kleist-Heinrich

Sind Jogger nicht Gewohnheitstiere? Donnerstagmorgen um halb acht im Volkspark Wilmersdorf. An der Stelle, wo der Unbekannte zusammenbrach. Zur Rechten ein Busch und das Gatter eines Sportplatzes, zur Linken ein Stück Wiese, nicht weit davon ein Spielplatz. Alle paar Sekunden kommen Leute vorbei. Jogger, Gassigeher, Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Keinem kommt das Gesicht des Mannes bekannt vor. Eine Frau sagt, das sei auch kein Wunder. Allein die Zahl der Jogger sei in diesem Park so hoch, man könne sich hier unmöglich grüßen, sonst käme man aus dem Grüßen nicht mehr heraus. Also schaue man sich besser gar nicht erst ins Gesicht. Sie sagt, im Grunewald sei das anders.

Dann ist da eine andere Frau. Na klar, sie kenne den Mann. Also nicht persönlich. Aber bis vor zwei Jahren sei er hier regelmäßig durch den Park gejoggt. Der Mann sei ihr damals schon aufgefallen. Er habe beim Laufen oft gegrummelt. Er habe Selbstgespräche geführt und über andere Menschen geschimpft.

Auf der Intensivstation der Charité ist der unbekannte Jogger inzwischen in einem Doppelzimmer untergebracht. Die Kliniksprecherin sagt, das habe man bewusst gemacht, damit der Patient nicht so einsam sei. Tagsüber wird er in einen abgesicherten Stuhl gesetzt. Manchmal macht er kurz die Augen auf, aber das hat nichts zu bedeuten. Was die Unterbringung auf der Intensivstation im Vergleich zu einer Reha-Maßnahme kostet und was geschieht, sollte der Patient auch in Monaten oder Jahren nicht identifiziert sein, will die Charité nicht sagen.

Vergangenen Montag ist Uwe Dziuba erneut in der Klinik gewesen. Für ein weiteres Foto. Diesmal hat eine Logopädin dem Unbekannten vorher das Gebiss eingesetzt, vielleicht fügt es das bisschen Ähnlichkeit hinzu, das er braucht, um endlich erkannt zu werden. Außerdem hat Dziuba zwei Speichelproben genommen. Ein Richter hat zugestimmt, dass die DNA-Sequenz des Joggers ermittelt werden darf. Das ist nur erlaubt, wenn alles andere vergebens war. Ob es was bringt? „Keine Ahnung“, sagt Uwe Dziuba.

Hinweise nimmt die Vermisstenstelle des LKA unter Telefon 030-4664-912444 entgegen. Weitere Angaben zu der Person und Bilder finden Sie hier.

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