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Ein Spiegelbild der Gesellschaft sollte der Bundestag sein – doch dem Ideal kommt das neue Parlament nur bedingt nahe.

© Anastasia Borisova/Pixabay

Wen der Bundestag repräsentiert: Das Parlament der Akademiker

Jung, divers und vielfältig? Mehr als 730 Abgeordnete sollen in dieser Wahlperiode die Interessen des Volkes vertreten – aber viele gesellschaftliche Gruppen werden nicht angemessen repräsentiert. Eine Analyse.

Genau 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Groß genug wäre der Bundestag, um jene, die ihn gewählt haben, nicht nur zu vertreten, sondern auch zu spiegeln. Der Frauenanteil ist am 26. September auf 35 Prozent wieder etwas gestiegen, nachdem die Wahl 2017 einen Einbruch auf 31 Prozent brachte. Erneut haben es auch mehr Menschen aus Einwandererfamilien ins Parlament geschafft.

Nach einer Zählung des Mediendienstes Integration haben 11,3 Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund. Das ist zwar noch deutlich von ihrem Anteil an der Bevölkerung entfernt – da sind sie mehr als ein Viertel. Aber es tut sich von Wahl zu Wahl etwas: 2013 waren es 5,9 Prozent, 2017 dann 8,2 Prozent, jetzt sind es mehr als ein Zehntel. Und jünger ist der 20. Deutsche Bundestag auch geworden.

In einem entscheidenden Punkt allerdings wird er immer einförmiger statt vielfältiger, und das seit langem: Sozioökonomisch repräsentiert der neue Bundestag Deutschland gar nicht. Arbeiter:innen, prekär Beschäftigte und Abgeordnete ohne akademischen Hintergrund gibt es dort kaum.

Herkunft und Bildung - da ist der neue Bundestag nicht bunter als der alte

Auch die jetzt gewählte Volksvertretung gehört wieder den akademisch Gebildeten, eine Art „Parlament der Geschäftsführer”, sagt Christian Breunig, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und dort Forscher im

Projekt „Politik der Ungleichheit“. Mit Kolleginnen und Kollegen hat Breunig sich die Lebensläufe und Bildungsabschlüsse der Gewählten vorgenommen.

Eine Feinanalyse stehe noch aus, aber in Sachen Wohlstand und Herkunft, sei das neue Parlament „eher nicht“ diverser geworden. 414 Abgeordnete geben an, dass sie zuvor in einer Unternehmensführung und -organisation tätig waren, 104 kommen aus Recht und Verwaltung, 52 aus anderen wissenschaftlichen Feldern.

Etwa 87 Prozent der Volksvertreter:innen haben inzwischen einen akademischen Hintergrund. In der Bevölkerung selbst sind es lediglich 14 Prozent. Michael Hartmann, Elitenforscher und emeritierter Soziologie-Professor der Technischen Universität Darmstadt, erläutert den Abstand zwischen der Bevölkerung und seiner Vertretung in Zahlen. „Im neuen Bundestag vertritt ein MdB derzeit 110 000 Bürgerinnen und Bürger.

Jeder Rechtsanwalt im Parlament vertritt aber gerade einmal 1 500 aus seiner Berufsgruppe, jeder Arzt oder jeder Lehrer 30 000, eine Pflegerin als Abgeordnete steht dagegen für 300 000 Pflegekräfte, ein Arbeiter sogar für mehr als zwei Millionen seinesgleichen.“

Nun ist das, was man mitbringt an Eigenschaften und sozialem Hintergrund, und das, was man davon politisch vertritt, nicht zwingend eins. Die Wissenschaft unterscheide zwischen „deskriptiver“ und „substanzieller Repräsentanz“, erläutert Breunig. Und da hat das Konstanzer Team mit Kolleg:innen aus Stuttgart, Basel und Genf eine interessante Entdeckung gemacht. Sie untersuchten Kleine und Große Anfragen im Bundestag aus anderthalb Jahrzehnten, die Abgeordnete aus benachteiligten Gruppen persönlich gezeichnet hatten – insgesamt knapp 1300 Volksvertreter.

Elitenforscher: Parlament spiegelte nie die Gesellschaft

Tatsächlich setzen sie sich zunächst stark für die Belange ihrer Herkunftsgruppen ein; allerdings nahm dieses spezielle Engagement nach ein bis zwei Legislaturperioden deutlich ab; lediglich weibliche Abgeordnete setzten sich auf Dauer für Frauenbelange ein. Die Forscher:innen erklären den Bruch mit Karriereüberlegungen und schierer Notwendigkeit: Die Fraktionen brauchen Führungsnachwuchs, der sich über Nischen hinweg qualifiziert – auch wenn sie es waren, die die Abgeordneten erst ins Parlament gebracht haben. Gesucht sind Fachleute auf den klassischen Politikfeldern, zum Beispiel Finanz- oder Außenpolitik.

Was dabei als Nische und was als klassisch gilt, sage auch etwas über die Wandlungsfähigkeit von Politik oder ihre Hierarchie von Rand- und Kernthemen, meint Breunig. So seien Digitalisierung und Klimaschutz, in früheren Wahlkämpfen noch am Rande, in diesem Jahr ins Zentrum gerückt. Frauen- und Politik für die Einwanderungsgesellschaft dagegen scheinen immer noch als Randthemen zu gelten, obwohl auch sie das ganze Land grundsätzlich betreffen.

Elitenfachmann Hartmann hält eine exakte soziale Spiegelung der Bevölkerung im Parlament allerdings nicht für ausschlaggebend. Sie hat ohnedies noch nie funktioniert. Bis 1957 lag der Akademikeranteil zwar bei 45 Prozent und stieg dann kontinuierlich auf aktuell gut 87. Aber: „Bezogen auf die Gesamtbevölkerung gab es bis Mitte der 60er Jahre sogar noch mehr Akademiker im Bundestag als heute“, sagt er. „Damals lag die Quote in der erwachsenen Bevölkerung um drei Prozent, heute bei gut vierzehn.“

Entscheidender sei, sagt Hartmann, was er als „prägende Mehrheit“ bezeichnet. „Früher hatten drei Viertel der Bevölkerung nur einen Volksschulabschluss, aber auch jeder vierte Abgeordnete. Volksschule und danach eine Lehre, das war auch im Bundestag normal. Heute haben immer noch knapp 30 Prozent der Bevölkerung einen Hauptschulabschluss. Im Parlament sind Hauptschüler aber praktisch nicht mehr vertreten. Normal ist dort nur noch der Hochschulbesuch.“

Auch der abnehmende Anteil von Gewerkschaftern sei ein Problem für die Vertretung derer ohne Privilegien. Nach Berechnungen des Bundestags selbst gehörten vor 20 Jahren noch mehr als die Hälfte der Abgeordneten einer Gewerkschaft an, im letzten Bundestag waren es noch knapp 23 Prozent. „Leute wie Georg Leber von der SPD oder der CDU-Politiker Norbert Blüm wurden nicht als Arbeiter gewählt“, sagt Hartmann. „Aber sie brachten als Gewerkschafter diese Erfahrung mit ins Parlament. Dass sie weniger werden, verändert das Klima dort.“

Und dass Herkunft präge, dass sie auch im Leben von Aufsteigern noch lange ihre Ansichten bestimme, zum Beispiel zur Steuerpolitik, weiß Hartmann aus seinen Studien über die deutschen Eliten.

Im armen Viertel sinkt die Wahlbeteiligung weiter, im reichen steigt sie noch

Wirklich drastisch wird das Problem der Repräsentation allerdings durch den anhaltenden Abwärtstrend der Wahlbeteiligung. Vor allem jene, die wenig oder nichts haben, sehen im Wählen anscheinend keinen Sinn mehr – mit dem Ergebnis, dass die Stimmen der Bessergestellten noch mehr Gewicht bekommen.

Hartmann verweist auf die Kölner Stadtteile Chorweiler und Hahnwald – arm der eine, der andere ein Viertel der mehr als Wohlhabenden. In Hahnwald wählten am 26. September praktisch alle, die es durften: 91 Prozent, in Chorweiler nur 44 Prozent. Gegenüber der letzten Bundestagswahl kletterte die Wahlbeteiligung in Hahnwald sogar noch einmal – 2017 waren es 88,5 Prozent –, in Chorweiler dagegen sank sie erneut um zwei Prozentpunkte.

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Das sei nicht einmal die ganze Wahrheit, sagt Hartmann: „Weil fast die Hälfte der erwachsenen Einwohner nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt, liegt die Wahlbeteiligung bezogen auf alle Einwohner in Chorweiler bei gerade einmal 25 Prozent.“

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