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Mikro frei. Gender und Diversity werden an der Freien Universität in vielen Fächern thematisiert.

© Universitätsbibliothek/Cedis

75 Minuten Gender Studies: Was sagen Wissenschaftler:innen zum Stand der Geschlechterforschung?

Forschende aus verschiedenen Fachrichtungen der Freien Universität Berlin beleuchten mit ihren Projekten Gender und Diversity.

Von Kerrin Zielke

Zehn Vorträge zur Geschlechterforschung, je siebeneinhalb Minuten lang: insgesamt also 75 Minuten zum 75. Geburtstag der Freien Universität. Was hat sich seit deren Gründung in der Geschlechterforschung getan, welche aktuellen Projekte gibt es? Diese Frage beantworteten Forschende aus zehn Fachrichtungen bei einer Open-Mic-Veranstaltung. Die Beiträge waren vielfältig: über die Bedeutung von Kopftüchern, die Kontroverse um die Musikgruppe Rammstein, unbezahlte Sorgearbeit und das Verhältnis von Körper und Raum. Alle Vorträge wurden in Videos festgehalten.

Veranstaltet wurde die Reihe vom Margherita-von-Brentano-Zentrum, das selbst Vorreiter auf dem Gebiet ist. Das Zentrum führt unter anderem die Arbeit der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung fort, die bereits 1981 gegründet worden war – als eine der ersten Einrichtungen dieser Art an einer bundesdeutschen Hochschule überhaupt.

An der Freien Universität Berlin ist die Geschlechterforschung in zahlreichen Fächern verankert, sie ist international ausgerichtet und stark vertreten in den Regionalstudien. Bei aller Vielfalt der Fragestellungen und Methoden sind die Projekte durch ihre wissenschaftskritischen und selbstreflexiven Ansätze sowie durch die Fokussierung auf gesellschaftlich relevante Themen verbunden. Das Margherita-von-Brentano-Zentrum unterstützt die Geschlechterforschung. Es ist ein Ort des Austauschs und der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, hier werden neue Projekte initiiert und Forschungsergebnisse verbreitet.

Weitere Einblicke in die Gender Studies bietet am 18. Dezember ein bundesweiter Wissenschaftstag #4GenderStudies, an dem auch Forschende der Freien Universität und das Margherita-von-Brentano-Zentrum beteiligt sind. Rund um den Tag erscheint eine Fülle von Beiträgen auf Social-Media-Kanälen unter dem Hashtag #4GenderStudies. 

Ernährung Sozialökologisch transformieren

Gülay Caglar, Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin

Wie kann die sozialökologische Transformation geschlechtergerecht bewältigt werden? Ich beschäftige mich mit dieser Frage, indem ich die Ernährungspolitik sowie alternative Ernährungsnetzwerke näher in den Blick nehme. Ernährung gehört zu den drängendsten Themen unserer Zeit. So ist die Nahrungsmittelproduktion massiv von den Herausforderungen des Klimawandels betroffen, und sie trägt selbst maßgeblich zur Umweltzerstörung bei. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive interessiert mich, wie politische Prozesse auf Mikro-, Meso- und Makroebene organisiert werden müssen, um einen Wandel in der Nahrungsmittelproduktion und im Konsum geschlechtergerecht gestalten zu können. Besonders spannend finde ich die Frage, durch welche alternativen Praktiken eine ökologische Lebensweise etabliert werden kann, wobei fraglich ist, ob diese Praktiken verallgemeinerbar sind. Geschlechterordnungen spielen dabei eine relevante Rolle. So stellt sich die Frage, wie Arbeitsverhältnisse in der Nahrungsmittelproduktion entlang globaler Lieferketten geschlechtsspezifisch geprägt sind. Wie werden die Arbeitsteilung und Entscheidungsfindung in alternativen Ernährungsnetzwerken organisiert, und wem wird die Umweltverantwortung zugeschrieben? Die Geschlechterforschung bietet das analytische Instrumentarium, um Antworten auf diese Fragen zu finden.

Kopftuch ist eine komplexe Körperpraxis

Schirin Amir-Moazami, Institut für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin

In der Islamwissenschaft sollte Geschlechterforschung eine zentrale Rolle spielen – das ist aber nicht immer der Fall. Dabei bringt das Fach aus seiner Entstehungsgeschichte selbst eine bestimmte Perspektive auf Geschlechterordnungen mit sich. Die Islamwissenschaft ist in der Blütezeit des Orientalismus entstanden, das ist – sehr kurz gesagt – die Phantasie über ein orientalisches Anderes. Der „Orient“ wurde häufig als das feminine, laszive Andere konnotiert, um das Eigene als fortschrittliches, dynamisches Gegenüber zu konstruieren. In meinem Forschungsfeld – Islam in Europa – hallt davon durchaus einiges nach. So werden etwa in öffentlichen Debatten stets dieselben Fragen gestellt: Sind islamische Geschlechterordnungen vereinbar mit liberal-säkularen Ordnungen Europas? Sind muslimische Frauen emanzipierbar oder sind sie unterdrückt? Die ständig aufflammende Kopftuch-Debatte folgt seit Jahrzehnten der gleichen Choreografie – egal, was die Frauen selbst zu sagen haben. Die Forschung hat aber längst gezeigt: Das Kopftuch ist kein eindeutiges Symbol, sondern eine komplexe Körperpraxis, eingebunden in vielfältige Lebensverhältnisse und politische und soziale Kontexte.

Großer Einfluss der sozialen Medien

Miriam Siemon, Margreth Lünenborg vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin

Im Sommer war es also Rammstein. Woher wir das wissen? Soziale Medien haben öffentlich gemacht, was jahrzehnte- lang nicht-öffentlich gewesen ist. Ein weiterer Fall von #MeToo, bei dem in und mit digitalen Medien eine Öffentlichkeit geschaffen wurde über toxische Männlichkeit und sexualisierte Gewalt. In der Kommunikationswissenschaft fragen wir darüber hinaus: Wie sind Geschlecht und Kommunikation miteinander verwoben? Wie werden in der medialen Kommunikation Geschlechterbilder erzeugt? Wie macht die Kommunikation von Geschlecht manches sichtbar und lässt anderes unsichtbar? In unserer Forschung untersuchen wir den klassischen Journalismus ebenso wie Social-Media-Plattformen. Dabei bildet mediale Kommunikation keineswegs die gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Das zeigt sich zum Beispiel in der Care-Arbeit: In der privaten Sorgearbeit, etwa beim Homeschooling, kommt Frauen eine sichtbare Sprechposition zu. Anders bei professioneller Care-Arbeit in Krankenhäusern: Hier haben Männer in den Medien das Sagen, sogar unter Pflegekräften. Dabei arbeiten hier fast ausschließlich Frauen.

Mehr Kenntnis als Mittel gegen bedrohlicher werdende Transphobie

Andrea Rottmann, Martin Lücke, Geschichtsdidaktik an der Freien Universität Berlin

In der Geschichtsdidaktik arbeiten wir zu Themen historischen Gender-Bewusstseins. Was bedeutete Geschlecht zu welchen Zeiten, was war kontinuierlich, was war ähnlich? Das arbeiten wir empirisch heraus. Wir forschen auch zur Geschichte sexueller Vielfalt. Aus der queer-historischen Perspektive ist es notwendig, die Verschränkung von nichtnormativer Sexualität und Geschlecht zu untersuchen, und dazu gehört insbesondere die Trans-Geschichte, über die wir noch viel zu wenig wissen. Eine größere historische Kenntnis von Lebensweisen jenseits der zweigeschlechtlichen Norm ist vielleicht auch ein Mittel gegen die bedrohlicher werdende Transphobie. In unserer Forschung untersuchen wir aktuell, wie sich LSBTIQ-Bewegungen in die Bildungspolitik eingebracht haben. Ein weiteres Thema ist die Auseinandersetzung zwischen der Menschenrechts- und der Schwulen- und Lesbenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren, in der es im Kern darum ging: Ist Liebe ein Menschenrecht, auch die Liebe zu einer Person gleichen Geschlechts?

Die Lücke bei Gender-Themen ist aufgegriffen worden

Jenny Schrödl vom Institut Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin

In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft hatten es Gender-Themen noch bis vor acht bis zehn Jahren schwer – vielleicht überraschenderweise. Die Hauptdebatten um Performativität und Theatralität kamen größtenteils ohne Fragen aus der Geschlechterforschung aus. Das hat sich inzwischen geändert – Luft nach oben gibt es allerdings. Gender wird in der Theaterwissenschaft vor allem auf vier, oft verschränkten Ebenen untersucht: auf institutioneller Ebene (etwa Geschichte und Organisation von Theatern), auf struktureller Ebene (so in Bezug auf Arbeitsformen), auf ästhetischer Ebene (etwa theaterästhetische Strategien) sowie auf gesellschaftspolitischer Ebene (etwa Kritik an Geschlechternormen). Aktuell liegen meine  Lehr- und Forschungsschwerpunkte beim queeren Gegenwartstheater und bei queer-feministischen Gruppen wie CHICKS*, hannsjana oder Henrike Iglesias.

Neue Themen für die Philosophie

Manon Garcia, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin

Die Kategorie Geschlecht kann keinen Einfluss auf die Philosophie haben. Denn diese hat mit Wahrheit zu tun, die Frage danach hat neutral zu sein – und Feminismus ist ein politisches Unterfangen. Stimmt das? Die ältere feministische Erkenntnisphilosophie hat diesen Objektivitätsdiskurs kritisiert, und es gab innerhalb der Philosophie eine große Debatte darüber, ob sie feministisch sein kann. Inzwischen trägt die feministische Philosophie zu vielen Teildisziplinen bei. So, wie innerhalb der politischen Philosophie darüber diskutiert wird, was Politik ist, und im Rahmen der Moralphilosophie, was Gerechtigkeit ist, wird auch innerhalb der feministischen Philosophie über die Kategorie „Geschlecht“ debattiert. Ein Ziel ist es, die Geschlechterordnung herauszuarbeiten und die zugrundeliegende Ideologie zu dekonstruieren. Es werden auch neue Themen philosophisch analysiert – etwa Sexualität, Fortpflanzung und Familie –, bei denen klassische Dualitäten, etwa von Subjekt und Objekt, nicht funktionieren: Im Fall einer Schwangerschaft ist ein Mensch zugleich „Selbst“ und „Anderes“.

Universitäten sind Orte der Macht.

Bontu Lucie Guschke Laura Eigenmann vom Institut für Soziologie an der Freien Universität Berlin

Universitäten sind zen­trale Orte, an denen Wissen für und über die Gesellschaft produziert wird; sie sind deshalb auch Orte für die Produktion von Macht. Sie sind aber zugleich ein Ansatzpunkt für gesellschaftliche Veränderungen. Derzeit untersuchen wir die Entwicklung der Diskurse über Gender und Diversity in der Wissenschaft auf Ebene der Europäischen Union. Diese haben überraschend viel Einfluss auf den nationalen Kontext. Dabei spielen vor allem finanzielle Anreize eine Rolle: Die EU hat große prestigereiche Förderprogramme, schon seit einigen Jahren sind diese an Gleichstellungsmaßnahmen gekoppelt. Es muss bei Anträgen angegeben werden, wie Gender inhaltlich zum Tragen kommt, auch in der Astrophysik und Mathematik. Viele Gleichstellungsakteurinnen und -akteure nutzen Argumente der EU und können damit Legitimität gewinnen. Ein Argument ist, dass Geschlechtergerechtigkeit und Diversity und die damit verbundene Perspektivenvielfalt notwendig für exzellente Forschung seien. Diesbezüglich untersuchen wir, welche Möglichkeiten aber auch Einschränkungen das für die Gleichstellungsarbeit mit sich bringt.

Geschlecht bleibt ein Machtverhältnis

Sarah Bellows-Blakely, Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin

Über Gender zu sprechen, heißt über Macht zu sprechen, so argumentierte die Historikerin Joan Scott bereits 1986. Als eine an Machtstrukturen interessierte Historikerin ist Gender für mich eine zentrale analytische Kategorie. Historisch betrachtet wurde der Begriff Gender innerhalb sozialer Bewegungen und spezifischer politischer Ordnungen entwickelt – damit meine ich nicht allein den Feminismus, sondern auch den Kapitalismus und die (De-)Kolonialisierung. Es müssen die oft langweiligen und bürokratischen Praktiken untersucht werden, mit denen Institutionen Rahmungen eines bestimmten Verständnisses von Gender übernehmen oder stabilisieren, während sie überlappende Parameter – wie Klasse und Race – ignorieren. Es ist nicht allein wichtig, was Gender Studies für die Geschichtswissenschaft leisten, sondern wir sollten uns auch umgekehrt fragen: Was kann die Geschichtswissenschaft zu den Gender Studies beitragen? Ganz grundsätzlich zeigt sie uns, dass Geschlecht als soziokulturelle Konstruktion eine raumbezogene Geschichte hat und oft umstritten war. Geschlecht bleibt aber ein Machtverhältnis und stellt eine asymmetrische Dynamik her.

Der Blick erweitert sich über die weiße Frau hinaus.

Antonie Schmiz, Sylvana Jahre vom Institut für Geographische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin

Die feministische Geografie hat sich seit den 1970er Jahren zu einem bedeutenden Feld innerhalb der Humangeografie entwickelt und befasst sich mit dem wechselseitigen Herstellungsprozess von Geschlecht und Raum. Anfangs ging es oft um geschlechtsspezifische Mobilität. Zum Beispiel wurde gezeigt, dass in der Raumplanung meist männliche Mobilität und dabei der Weg von zu Hause zur Arbeit und zurück berücksichtigt wurde. Die Wege von Frauen sind oft komplexer. Mütter etwa be- wegen sich zwischen dem Zuhause, Kitas und Schulen, Supermärkten und dem Arbeitsort. Seit den 1990er Jahren wurde die Kritik am geschlechtsneutralen Blick in die Landschaft wichtig – denn die Beobachterposition hat einen wesentlichen Einfluss. Aktuell stehen menschliche Körper und nicht-menschliche Materialitäten im Fokus. Der Blick erweitert sich somit über die weiße Frau hinaus, und es lässt sich zeigen, wie Körper Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, sowie Gewalt und Ausbeutung erfahren. Auch als Protestmittel lassen sich Körper aus feministisch-geografischer Sicht erforschen, etwa im Iran.

Kluft zwischen Wissen und Handeln

Petra Lucht vom Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie an der Freien Universität Berlin

Gender Studies in den Naturwissenschaften nahmen ihren Anfang in den 1970er Jahren. Welche Bedeutung haben die Geschlechter- und Diversitätsforschung für die naturwissenschaftlichen Fächer heute? Ich würde mir wünschen: eine sehr viel größere! Es geht darum, drei Fragen nachzugehen: Wer ist an den Professionen in MINT beteiligt? Was wissen wir zu Gender und Diversity in den Naturwissenschaften und wie kann oder muss dieses Fachwissen in Forschung und Lehre erneuert werden? Wie vollzieht sich der Transfer von Wissen zu Gender und Diversity von den Naturwissenschaften in die Gesellschaft und auch umgekehrt, wie von der Gesellschaft in die Wissenschaft hinein? In einem meiner Forschungsprojekte geht es um Klima- anpassungsmaßnahmen. Wir kooperieren mit einer Schule in einem Berliner Kiez, an der wir Schülerinnen und Schülern mittels eines Citizen-Science-Projekts Klimawissen nahebringen, um dann Maßnahmen zur Umsetzung zu entwickeln. Ziel dieses Projekts sowie insgesamt unserer Lehre und Forschung ist es, Klüfte zwischen Wissen und Handeln sowohl in diesem Projekt zu Klimaanpassungsmaßnahmen als auch bezogen auf die Gender und Diversity Studies in MINT insgesamt aufzuzeigen und zu überbrücken. Daher richtet meine Arbeitsgruppe in diesem Semester in Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen in MINT eine öffentliche Vortragsreihe zu „Vielfalt schafft Wissenschaft – Wissenschaft schafft Vielfalt. Gesellschaftliche Herausforderungen im Blick der Gender- und Diversityforschung in MINT“ aus.

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