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Das Springer-Hochhaus wurde nach dem Attentat auf Rudi Dutschke von der Polizei vorsorglich mit Stacheldraht gegen Demonstranten geschützt.

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1968 im Tagesspiegel: Nach Mordanschlag auf Dutschke Kettenreaktion von Gewalttätigkeiten

Vor 50 Jahren musste der Springer-Verlag mit Stacheldraht gesichert werden

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 14. April 1968 schrieb der Tagesspiegel Ausschreitungen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke.


Nach den schweren Auseinandersetzungen und Übergriffen von Demonstranten und Studenten am Karfreitag in Berlin und vielen westdeutschen Großstädten, deren Anlaß der Mordanschlag auf Dutschke war, die sich dann aber auf den Springer-Verlag konzentrierten, kam es am Sonnabendnachmittag auf dem stark belebten Kurfürstendamm, am Kranzler-Eck sowie an der Gedächtniskirche zu zahlreichen Verkehrsstillegungen. Demonstranten blockierten kurzfristig die Kreuzungen; die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor.

Bundeskanzler Kiesinger und der Regierende Bürgermeister Schütz forderten in Appellen auf, den Mordanschlag auf Dutschke nicht zu politischen Zwecken zu mißbrauchen. Der Kettenreaktion von Gewalttätigkeiten der letzten Tage müsse ein Ende gesetzt werden.

Während der Berliner Senat am Sonnabendnachmittag zu einer Sondersitzung zusammentrat, um die jüngste Situation zu beraten, forderten in der Technischen Universität mehrere hundert Studenten und Mitglieder der außerparlamentarischen Opposition in ultimativer Form vom SFB täglich eine Stunde Sendezeit.

Mehrere Professoren haben die Berliner Bevölkerung zu einer Kundgebung für Ostermontag 15 Uhr auf dem Hammarskjöldplatz vor den Messehallen am Funkturm aufgerufen. Die Kundgebung steht unter dem Motto "Macht einen neuen Anfang!" Der Landesjugendring und die FDP unterstützen die Veranstaltung.

Auf der Kundgebung werden Professor Dahrendorf, Harry Ristock, Knut Nevermann, Dr. Meschkat und der frühere Regierende Bürgermeister Albertz sprechen. "Die Lage der Stadt und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke erfordern eine demokratische Initiative", heifit es in dem Aufruf.

Unterzeichnet haben ihn: Prof. D. Martin Fischer, Prof. Dipl.-Ing. Peter Haupt, Prof. Claus Heitmann, Prof. Dipl.-Ing. Manfred M. Manleitner, Prof. Gunter Otto, Justus Schmukker und Dozentin Herta Schönewolf.

Der Regierende Bürgermeister Schütz appellierte an alle: "Macht endlich Schluß mit den Gewalttätigkeiten in Berlin. Wir müssen endlich dazu kommen, in dieser Stadt wieder zusammen und in Frieden zu leben." Wer das Verbrechen an Rudi Dutschke mißbrauche und sich zu neuen Gewalttätigkeiten hinreißen lasse, müsse damit rechnen, daß diesem ungesetzlichen Handeln mit angemessenen Mitteln begegnet werde. Diese Feststellung sei bedauerlich, aber nach Lage der Dinge leider notwendig.

In der TU berieten rund 800 Studenten über neue Massendemonstrationen.

Die Wirksamkeit solcher allgemeiner Aktionen wurde von einigen Rednern bezweifelt.

Während der Zusammenkunft befürworteten Redner statt der Massenaktionen kleine, gut organisierte Agitationseinsätze. Die Studenten bildeten darauf mehrere Aktionsausschüsse.

Die nächste größere Demonstration soll, wie aus einem Aufruf der "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" (Ostermarschbewegung) hervorgeht, am heutigen Sonntag um 15 Uhr auf dem Wittenbergplatz beginnen.

Die Mehrheit der Versammelten sprach sich dafür aus, am Sonnabendnachmittag an drei verschiedenen Punkten der City den Verkehr für jeweils zehn Minuten zu blockieren. Dies führte zu Hupkonzerten der behinderten Autofahrer. Zu einem Zusammenstoß mit der Polizei kam es, als die Demonstranten, die der Aufforderung über Polizeilautsprecher, die Straße zu räumen, nicht nachkamen, vom Kurfürstendamm in die Meinekestraße abgedrängt und dort umzingelt wurden.

Eine Reihe von Demonstranten hob die Hände und schrie in Sprechchören »Hilfe, Hilfe".

Den eingekreisten, meist jugendlichen Demonstranten wurde über Lautsprecher mitgeteilt, sie sollten sich als festgenommen betrachten. Während ein Teil der Gruppe entkommen konnte, wurden etwa 200 Demonstranten in Polizeiwagen abtransportiert. Die Polizei machte teilweise von ihren Schlagstöcken Gebrauch. Unter den Festgenommenen befanden sich die beiden "Kommunarden" Langhans und Teufel, zwei "Kommune"-Mädchen sowie der Sohn des Außenministers, Peter Brandt.

Während die eingekreisten Demonstranten auf ihren Abtransport warteten, fand die Polizei in Plastikbeuteln mehrere Messer, Totschläger, Flaschen mit Spiritus, Farbtöpfe, einen Sprengsatz sowie Tränengaskörper.

Zu den nach dem Kriege schwersten Studentenkrawallen, die stellenweise die Form regelrechter Straßenkämpfe mit der Polizei angenommen hatten, war es am Karfreitag in Berlin und zahlreichen westdeutschen Großstädten gekommen.

Die außerparlamentarische Opposition in Berlin und der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als die Hauptinitiatoren der Demonstrationen und Protestmärsche konzentrierten ihre Aktionen in den Abendstunden des Karfreitag hauptsächlich auf die Verlagsgebäude und Druckereien des Springer-Konzerns sowie gegen andere Zeitungsdruckereien, in denen Blätter des Springer-Verlages gedruckt werden.

Mit Ausnahme von Berlin gelang es den mit außerordentlicher Härte vorgehenden Demonstranten überall, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu behindern und teilweise- ganz zu verhindern.

Die Ausschreitungen in Berlin

Am heftigsten und längsten waren die Aktionen der Studenten und der außerparlamentarischen Opposition in Berlin, wo zunächst zwei Marschkolonnen über Kurfürstendamm und Hardenbergstraße zur City zogen.

Zu den ersten schweren Zwischenfällen kam es dann auf dem Kurfürstendamm, als Stoßkeile der Demonstranten eine Polizeikette durchbrachen, und später durch einen quer über die Fahrbahn geschobenen Bauwagen ein Feuer auf der Fahrbahn ausbrach. Unter den mitgeführten Transparenten wurde mehrfach der Text "Antifaschistische Einheitsfront" gezeigt. (Vor Beginn hatte die SED West-Berlin erklärt, sie würde sich an den Demonstrationen beteiligen.) Beide Demonstrationsblöcke vereinigten sich auf dem Kurfürstendamm und zogen zum John-F.-Kennedy-Platz vor dem Rathaus Schöneberg, wo bereits starke Polizeieinheiten bereitstanden. Die meist jugendlichen Demonstranten gingen sofort gegen die Polizeiketten vor und durchbrachen sie. Es kam zu schweren Schlägereien zwischen Demonstranten und der Polizei.

Die Demonstranten riefen "Schütz ist ein Faschist" und "Schütz ans Mikrophon" und forderten die Bildung eines "Senats, der demokratische Verhältnisse schafft". Mehrmals wurde "Nazischweine" gerufen, was- offenbar den Polizisten galt. Ferner wurden Parolen gegen den RIAS laut. Gruppen von Demonstranten zogen sodann zum Gebäude des RIAS, wo es wieder zu Zwischenfällen kam. Mehrere Fenster des Rundfunkgebäudes wurden eingeworfen.

Die politischen Forderungen

Die Demonstranten, die mit roten Fahnen durch die Straßen zogen, verteilten Flugblätter, auf denen der Rücktritt des Senats und seine Neubildung, die unverzügliche Enteignung Springers und die Schaffung eines Rates aus Arbeitern, Angestellten, Studenten und Schülern gefordert wurde.

Für den RIAS wurde die sofortige Ablösung der amerikanischen Kontrolle durch ein gewähltes und jederzeit abwählbares Organe- fordert. In den SFB seien sofort Vertreter der außerparlamentarischen Opposition in die Aufsichtsgremien hineinzuwählen unter der Bedingung, daß diese Gremien öffentlich tagen. Für die Zeit bis zum 1. Mai fordert die außerparlamentarische Opposition täglich eine Stunde Sendezeit.

Stacheldraht vor Springer-Hochhaus

Am Abend zogen die Demonstranten vor das Springer-Hochhaus, das die Polizei bereits am Nachmittag vorsorglich mit einem Stacheldrahtverhau umgeben hatte.

Vor den Barrikaden hatten sich bald etwa 2000 Demonstranten eingefunden und trockenes Gras in Brand gesteckt. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Unter dem Schutz der Polizei konnten die Zeitungen des Verlages auf den Weg gebracht werden. Einige Demonstranten hatten die Zufahrtsstraßen mit privaten Kraftwagen zu blockieren versucht. Die Polizei erstattete gegen sie Anzeige. Ein Zeitungswagen wurde von Demonstranten angehalten und ausgeräumt. Bürgermeister und Innensenator Neubauer berichtete später über ihm vorliegende Informationen, nach denen sich etwa 60 Demonstranten bereit erklärt hätten, mit ihren Wagen auf Springer-Fahrzeuge zuzufahren und mit ihnen zusammenzustoßen.

Nachdem bis weit nach Mitternacht an verschiedenen Punkten der Absperrungen gelegentlich kleinere Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei aufgeflackert waren, bröckelten die Demonstrationen nach 1 Uhr völlig ab.

2000 Polizisten in direktem Einsatz

Bei den Krawallen am Kurfürstendamm, vor dem Rathaus Schöneberg und am Springer- Haus setzte die Polizei insgesamt 2000 Mann ein. Ursprünglich hatte die Polizei vor Beginn der Ausschreitungen am Kurfürstendamm erheblich mehr Beamte in Bereitschaft, die dann aber abgezogen worden waren, so daß den Demonstranten dort nur etwa 1000 Polizisten gegenüberstanden.

Nach Auskunft des Kommandos der Polizei wurden insgesamt 49 Personen in polizeiliche Verwahrung genommen und 61 Demonstranten wegen Aufruhrs, Widerstandes, versuchter Brandstiftung und Körperverletzung fest- genommen. Von diesen befanden sich gestern nachmittag, noch, sechs in Gewahrsam der Abteilung I der Kripo. Bei den Polizeieinsätzen wurden 30 Beamte leicht und zwei so schwer verletzt, daß sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten. Die Polizei leitete gegen 70 Personen Strafverfahren ein.

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