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Blick in das überfüllte auditorium maximum der Technischen Universität während der "Internationalen Vietnam-Konferenz", die wenige Wochen vor dem Auftritt von Günter Grass und Gerd Bucerius an diesem Ort stattfand.

© Joachim Barfknecht / dpa

1968 im Tagesspiegel: Kundgebung mit Grass und Bucerius in der TU

Vor 50 Jahren sprachen Günter Grass und Gerd Bucerius vor Studenten in Westberlin

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 7. März 1968 wurde über die Kundgebung "Appell zur Vernunft" an der TU berichtet.

Unter dem Motto "Appell zur Vernunft" fand gestern abend im überfüllten Auditorium maximum der Technischen Universität eine Veranstaltung statt, die von der Humanistischen Union, der Liga für Menschenrechte und dem Arbeitskreis Kirche und Gesellschaft gemeinsam vorbereit worden war. Die Redner waren sich einig in der Kritik an der politischen Atmosphäre Berlins, wie sie besonders in den handgreiflichen Zwischenfällen nach Abschluß der Kundgebung Vor dem Schöneberger Rathaus am 21. Februar deutlich geworden war.

Der Hamburger Verleger Bucerius erklärte, "er teile die Unzufriedenheit der Studenten mit dem Staat, aber nicht ihre Meinung, daß das liberale System mit seinen Mängeln nicht fertig werden kann und notfalls auch mit Gewalt beseitigt werden muß". Man müsse die Ursache der Unruhe beseitigen und wieder einen offenen, liberalen Staat herstellen. Berlin solle die Herausforderung der Studenten annehmen, dann könne es wieder zum Vorbild für die Bundesrepublik und die "DDR" werden.

Mit großem Beifall wurde der Schriftsteller Günter Grass begrüßt.

Er sagte, der Appell an primitive Instinkte, der von den "Springer"-Zeitungen ausgegangen sei, scheine in Berlin jetzt zum Programm erhoben worden zu sein. Vorläufig gebe zwar wieder der Widersinn den Ton an, aber er ziehe es vor, "die Runde offen zu halten". Immer noch herrsche in Berlin "latende Pogromstimmung", die historisch unter anderem durch das langjährige Doppelspiel zwischen dogmatischem Stalinismus und dogmatischem Anti-Kommunismus in Berlin zu erklären sei. Die Jugend wolle aber das Schuldkonto der Väter und Großväter nicht oder nur unter Bedingungen übernehmen. Die Jugend nenne die Taten der USA in Vietnam verbrecherisch, und da niemand dieses Urteil zu widerlegen vermöge, rette sich die Bundesregierung in Vasallentreue, meinte Grass.

Das Mitglied der evangelischen Kirchenleitung Berlins, Professor Martin Fischer, dankte anschließend dem Berliner Bischof Scharf, da er mehrfach ohne Furcht vor Verunglimpfung seine Hilfe angeboten habe. Dafür sei ihm auch "glatter Haß und Zorn" entgegengebracht worden. Dennoch dürfe das vermittelnde Gespräch, bei dem auch die Kirche eine wesentliche Aufgabe hat, nicht abgebrochen werden. Fischer warnte vor einer Verbindung der Ultra-Konservativen mit den Ultra-Revolutionären.

Der Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt (IG Metall) kritisierte in scharfer Form die Haltung der politischen Führung der Stadt und der Gewerkschaftsführung gegenüber den Aktionen und Ansichten der studentischen Linken. "Die Plebejer proben die Barbarei, die Unternehmer zahlen den Lohnausfall", sagte Brandt zu den Zwischenfällen vor dem Rathaus Schöneberg. "Jugendgefährdend" nannte er die Erklärung Bundeskanzler Kiesingers zur Vietnam-Frage, die USA hätten sich überall am meisten für Frieden und Freiheit eingesetzt.

Professor Gerhard Kade vertrat die Ansicht, wo Vernunft verlangt werde, sei Radikalität notwendig. Die politische Meinungsbildung habe sich in den letzten zwanzig Jahren in ergreifendem Maße provinzialisiert. In Berlin werde eine Politik betrieben, welche die Vernunft zerstöre. Die Studenten wollten der jahrelangen Restauration nicht länger zusehen.

Eine der Tugenden Preußens, so sagte der Germanist Professor Peter Wapnewski, sei die Vernunft gewesen. Es wäre gespenstisch zu glauben, die Vernunft sei mit der Auflösung Preußens untergegangen.

Protesterklärung gegen die Politik des Senats

Mit einer Erklärung zur "Krise Berlins" haben sich 128 Professoren, Künstler und andere Persönlichkeiten an den Senat und die Parteien gewandt. In der Verlautbarung, die der Schriftsteller Günter Grass am Mittwoch der Presse übergab, heißt es, was Blockade und Mauerbau nicht erreicht hätten, drohe nun durch die Politik des Berliner Senats. Er riskiere, rechtsstaatliche Prinzipien zu zerstören und damit die demokratische Alternative zum Ostteil der Stadt preiszugeben. Diskussionen über die Methoden der studentischen Opposition seien notwendig, doch müsse jede Kritik verstummen, solange Studenten, unter den Augen der Polizei wie Freiwild gejagt würden. Am 21. Februar habe die Freiheitsglocke Pogromstimmung nachgeläutet". Der Bundestag habe es versäumt, beizeiten gemäß seiner politischen Verpflichtung die Debatte über den Vietnam-Krieg zu beginnen. "Der Protest der Jugend ist nicht zuletzt eine Reaktion auf solche Versäumnisse und auf die zunehmende Arroganz der politischen Macht."

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