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Der Stempel "Indiziert" der ehemaligen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.

© Oliver Berg/dpa

1968 im Tagesspiegel: Bundesprüfstelle kämpft gegen grauen und schwarzen Markt

Vor 50 Jahren ging es um jugendgefährdende Schriften

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 9. Juli kritisierte der Tagesspiegel die Indizierungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.

"Hundert Herrenwitze", "99 neue Witze für den Stammtisch", "Der größte Quatsch des Jahrhunderts" - drei Witzsammlungen unter diesen Titeln und neun weitere dazu hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften im Laufe des Jahres 1965 verboten, 459 Schriften und "andere Objekte" insgesamt. Sie stehen alle mit genauen Angaben in einem Gesamtverzeichnis, das der Leiter der Stelle, Oberregierungsrat Schilling, seit vier Jahren herausgibt (und das, nebenbei gesagt, für den Sammler von Pornographie eine Fundgrube darstellt). Bei der vierzehnten Ergänzungslieferung ist diese Liste mittlerweile angelangt. Bemerkenswert ist, daß nur 168 Schriften durch ein Verfahren vor der Bundesprüfstelle auf diesen Index gelangt sind, die übrigen auf dem längst üblichen Wege auf Grund der entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches. Im ganzen sind seit dem Bestehen der Bundesprüfstelle 1954 nunmehr weit über viertausend Schriften auf den Index gesetzt worden.

58 Bücher und Taschenbücher

Unter den 58 Büchern und Taschenbüchern, die 1965 als jugendgefährdend beurteilt wurden, befinden sich 27 Leihbücher und 8 Romane. Nur drei dieser Romane wurden auf Antrag indiziert, und zwar "Die Unersättlichen" des Amerikaners Harald Robbins, "Lyckan" (Das Glück) des Schweden Ivar Lo-Johansson und eine Fortsetzung der Fanny-Hill-Story durch einen deutschen Autor unter dem Titel "Salon Fanny Hill". Bei den fünf übrigen Romanen handelt es sich in vier Fällen ebenfalls um Ausgaben der "Fanny Hill", von denen zwei in einem Gerichtsverfahren als unzüchtig befunden worden waren. Die Indizierung des schwedischen Romans ist eindeutig als Missgriff anzusehen. Das Buch mag zwar nicht jedermanns Geschmack sein, ein Kritiker nannte es einen "in seiner Einfalt kaum lesbaren Blut- und Boden-Schinken", sein Thema ist die Sehnsucht nach einem Kind; der Autor ist aber kein Pornograph, sondern ein Besessener, ein Verstiegener, über den die Bundesprüfstelle nicht zu richten hat. Ebenso ist die Indizierung des amerikanischen Buches, eines Werkes der gehobenen Unterhaltungsliteratur, ungerechtfertigt. Sein Thema, die Loslösung eines tüchtigen Sohnes von seinem tüchtigen Vater, ist mit Können und spürbaren literarischen Ambitionen behandelt.

Nach wie vor liegt der Schwerpunkt der Indizierung bei den ausländischen Sex- und Aktbildmagazinen überwiegend amerikanischen und schwedischen Ursprungs. Eines von ihnen operiert als "Zeitschrift für Bettgeheimnisse" unter dem lockenden Titel "Uncensored". Neu ist, daß der sensationelle Erfolg des Magazins "Playboy" auf den europäischen Märkten in mehreren Ländern zu Nachahmungsversuchen angereizt hat, neuerdings auch in Deutschland. Ferner führt die Statistik 33 Schmalfilme eindeutigen Charakters, 13 Schallplatten, auf denen zum Beispiel zum Finden von Reimwörtern aus der untersten sprachlichen Sphäre angeregt wird, und neun "sonstige Objekte" wie Aktbild-Spielkarten und Aktbild-Kalender auf. Bekanntlich kann die Bundesprüfstelle außer gegen sittlich gefährdende auch gegen „verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizende sowie den Krieg verherrlichende" Texte einschreiten. Aber nur eine einzige Schrift dieser Art gelangte im Zeitraum der Statistik auf den Index: "Das große Kesseltreiben" von Erich Kern.

Selbstkontrolle durch verlagsunabhängige Prüfer

Auf dem Gebiet der Romanhefte ist seit längerem eine gut funktionierende Selbstkontrolle durch verlagsunabhängige Prüfer tätig. Der Umfang der Produktion auf dem in diesem Zusammenhang allein interessierenden Gebiet der Krimi-, Wildwest- und Abenteuerreihen ist beachtlich. Ebenso beachtlich aber ist der Umstand, daß diese Großproduktion zu Anträgen bei der Bundesprüfstelle offenbar keinen Anlaß mehr gibt. "Schwieriger", so Schilling, "liegen die Verhältnisse bei einigen großen Illustrierten. Hier wird nicht nur von Jugendschutzseite ständig und lebhaft geklagt, insbesondere über die auffallende Sexualisierung, die Mischung von "Crime und Sex" und das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Übergewicht der Darstellung von Skandalen, Abnormitäten und Sensationen. Gleiche Klagen hört man auch aus Kreisen der Lesezirkel, die diese Blätter den belieferten Familien gegenüber zu verantworten haben, aber auch in zahlreichen, fast allwöchentlich eingehenden Beschwerden aus dem Publikum an den Presserat, an Jugendschutzorganisationen, an Ministerien, die für den Jugendschutz zuständig sind, und an die Bundesprüfstelle. Auch hat die vox populi im Karneval fast in allen größeren Orten diese Zeiterscheinung glossiert. Auf diesem Gebiet hat das Gesetz über die Verbreitung Jugendgefährdender Schriften seine Bewährungsprobe noch vor sich."

Interessant ist, daß von den eingegangene: Indizierungsanträgen neun Zehntel von nur sechs Antragsberechtigten stammten, die in Laufe des Jahres bis zu 71 Anträge stellten. Vier Länder haben dagegen überhaupt keinen Antrag eingereicht. Nicht indiziert wurden als "Fälle geringerer Bedeutung" 32 Schriften, abgelehnt nur 25 Anträge. Diese Ablehnung betrafen unter anderem vier alte Nummen der Zeitschrift "konkret", zwei Nummern eine Illustrierten und das gereinigte "Fanny Hill" Taschenbuch.

Der Leiter der Bundesprüfstelle faßt in der vierzehnten Ergänzungslieferung des in Luchterhand Verlag, Neuwied, erschienene: Gesamtverzeichnisses "Jugendgefährdende Schriften" sein Urteil in den Sätzen zusammen "Der Umstand, daß der Schwerpunkt der Indizierungen bei den Magazinen liegt, sowie die enorme Zahl der Gerichtsentscheidungen beweisen zweierlei: erstens die unveränderte Fortexistenz eines erheblichen inländischen grauen und schwarzen Marktes solcher unzüchtiger und jedenfalls schwerstens jugendgefährdender Objekte und zweitens die Tatsache, daß auch die zahlreichen Strafverfahren diese ständigen Importe nicht zu vermindern vermögen.

Auch durch die Indizierungen nach § 18 des Strafgesetzbuches wird sich daran nichts ändern, aber durch sie wird verhindert, daß aus dem schwarzen und grauen Markt ein offener wird."

Autoren distanzieren sich von der Bundesprüfstelle

Die Bundesvereinigung der deutschen Schriftstellerverbände hat beschlossen, keine Beisitzer mehr für die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu benennen. Wie der Präsident der Organisation, der Schriftsteller Dieter Lattmann, in München mitteilte, wird die Arbeit der. Prüfstelle a einer Zensurinstanz nach Auffassung de: Schriftsteller-Verbände „den liberalen Verhäl nissen der bundesrepublikanischen Gegenwart nicht mehr gerecht".

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Gerhard Weis

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