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Markus Söder (CSU) und Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wollen nach der Bayern-Wahl im Oktober zusammen weiterregieren.

© dpa/Michael Kappeler

Der Fall Hubert Aiwanger : Wie viel Milde hat er verdient?

Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger kann wegen des Verdachts stürzen, er habe mit 17 ein antisemitisches Pamphlet verfasst. Aber es muss nicht so kommen.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Es ist möglich, dass Hubert Aiwanger über den Skandal um das antisemitische Pamphlet stürzt. Zum Beispiel, falls sich herausstellt, dass er doch der Autor des Flugblattes war und nicht sein Bruder.

Oder weil andere Aspekte seiner Darstellung sich als Lügen erweisen. Dann würde einmal mehr der Umgang mit einer Affäre und nicht deren Ausgangspunkt zum Rücktritt führen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat für Dienstag eine Sondersitzung des Koalitionsausschusses mit seinem Vizeregierungschef und dessen Freien Wählern einberufen. Das zeigt die Brisanz der Lage – eine doppelte Brisanz. Einerseits könnte Söder den Koalitionspartner verlieren, mit dem er nach der Wahl am 8. Oktober weiter regieren möchte.

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Markus Söder in der Klemme

Andererseits darf Söder nicht scharfrichterlicher auftreten, als es der Fall und die Beweise hergeben. Der Eindruck, dass er eine vermeintliche Medienkampagne opportunistisch nutzt, um einem Konkurrenten Wähler abzujagen, wäre fatal.

Vorbehaltlich einer Überführung Aiwangers als Lügner stehen Söder, Bayerns Wähler, aber auch die deutsche Gesellschaft insgesamt vor verzwickten Fragen: Wie viel Milde ist bei Fehltritten aus den Jugendjahren vor der Strafmündigkeit angebracht?

Welche Rolle sollte spielen, inwieweit sich die betroffene Person im Erwachsenenleben zum Anhänger von Demokratie und Rechtsstaat geläutert hat?

Anonyme Zeugen, die Tat liegt 35 Jahre zurück

Und: Darf ein Verdacht, vorgetragen von einer Zeitung, die sich auf anonyme Zeugen stützt, genügen, um 35 Jahre nach dem Vorfall eine Politikerkarriere zu beenden?

Hubert Aiwanger ist nicht als Antisemit bekannt oder als einer, der die Naziverbrechen gewohnheitsmäßig relativiert. Als er 17 Jahre alt war, wurden Kopien des widerlichen Pamphlets in seinem Schulranzen gefunden. Er bekam eine Strafarbeit, über deren Inhalt man gerne mehr wüsste. Sie könnte Hinweise auf sein Denken seinerzeit geben.

Heute ist Aiwanger 52 und nennt das Flugblatt „ekelhaft und menschenverachtend“. Er distanziert sich klar. Allenfalls könnte man fragen, warum er sich so nüchtern und gefühlskalt verteidigt. Er liebt sonst die emotional aufgeladene Rede. Hätte er, zum Beispiel, hinzugefügt „Ich schäme mich für mein Verhalten damals“, klänge er glaubwürdiger.

Der Fall Joschka Fischer

Bei der Suche nach Kriterien für den Fall Aiwanger kann eventuell ein Blick darauf helfen, wie die Bundesrepublik mit den biografischen Verirrungen und Verfehlungen anderer Politiker umgegangen ist. Joschka Fischer musste sich als Außenminister einem Untersuchungsausschuss des Bundestags stellen.

Rund 28 Jahre zuvor hatte er Steine auf Polizisten geworfen und auf einen am Boden liegenden Beamten eingeschlagen, da war er Mitte 20. So richtig distanziert von seiner Militanz hat er sich nicht.

Viele verziehen Fischer das, weil sie in ihm inzwischen den glaubwürdigen Vertreter des Staates sahen, den er früher bekämpft hatte. Ihm wurde auch nicht zum Verhängnis, dass er seinen Freund Joscha Schmierer in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes holte, obwohl der einst den maoistischen KBW geleitet, als Mittdreißiger wegen schweren Landfriedensbruchs im Gefängnis gesessen und seine Solidarität mit dem Massenmörder Pol Pot in Kambodscha erklärt hatte.

Der Fall Hans Modrow

Bei der Integration früherer SED-Größen in das demokratische System hat die Gesellschaft nach der Einheit oft erstaunlich großes Verständnis gezeigt. Hans Modrow, letzter Ministerpräsident der DDR, hatte als hoher Partei-Kader Mauer und Schießbefehl mitgetragen. Er wurde gleichwohl Bundestags- und Europaabgeordneter sowie Ehrenvorsitzender der SED-Nachfolgepartei PDS. Als er wegen Wahlfälschung und Meineid verurteilt wurde, kostete ihn das nicht seine Ämter.

In einer Zeit zunehmender Aufsplitterung in ideologische Lager treibt viele Menschen die Frage um, ob die Gesellschaft sich auf einheitliche Maßstäbe für die Beurteilung politischen Personals und seiner Verfehlungen einigen kann. Jede Seite stellt die andere unter Verdacht, Gleichgesinnte mit einfühlsamer Milde und Gegner mit verständnisloser Härte zu beurteilen. Der Rückhalt für die Demokratie lebt auch davon, dass dieser Argwohn nicht weiterwächst.

Für den Fall Aiwanger heißt das: genau hinsehen, was er getan hat und was nicht. Man sollte den heute 52-Jährigen nicht automatisch mit dem damals 17-Jährigen gleichsetzen, darf ihn jedoch daran messen, wie er mit seinem damaligen Verhalten jetzt umgeht.

Der Aiwanger von heute ist nach allem, was man weiß, kein Neonazi. Wohl aber ein gnadenloser Populist. Seine Aufforderung an Bayerns Wähler, die „schweigende Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie zurückholen“, hört man sonst nur vom rechten Rand. Was die Bayern davon halten, können sie am Wahltag zeigen.

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