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© RESQSHIP - Linda Rochlitzer

Zwischenruf einer Ärztin der Seenotrettung: „Was die EU-Außengrenzen anrichten, ist Irrsinn“

Hannah Weinhardt ist als Ärztin auf dem Mittelmeer im Einsatz. Dass in Deutschland über mehr Abschottung und Abschiebung diskutiert wird, kann sie nicht verstehen.

Ein Gastbeitrag von Hannah Weinhardt

Ich bin Ärztin an Bord der Nadir. Ein Segelschiff, das Teil der zivilen Seenotrettung ist. Mit einer Crew von sieben Leuten patrouillieren wir für die NGO „RESQSHIP“ im Mittelmeer zwischen Italien, Tunesien und Libyen. Drei Einsätze habe ich nun hinter mir.

Was wir tun, was wir erleben, was mit den Menschen geschieht, die wir retten oder nicht retten können, ist ein Politikum. Die Diskussion darum wird in kalten Worten geführt, mit vielen Zahlen, die verschleiern, dass es um Menschen geht.

An Bord der Nadir stellen sich andere Fragen. Fragen, die über Leben und Tod entscheiden und über die ich berichten möchte.

Wie die, ob wir diesmal wieder zu spät kommen.

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Ich erinnere mich an einen Einsatz im Oktober und an die Worte unseres Skippers: „Die Libyer sind bestimmt vor uns da.“

Der Horror der libyschen Gefängnisse

Der Skipper ist seit vielen Jahren fester Bestandteil der zivilen Flotte und weiß, was es bedeutet, wenn die Libyer zuerst bei einem in Seenot geratenen Flüchtlingsboot ankommen. Sie schleppen die Menschen zurück zu bewaffneten Milizen, die sie gewaltsam in die Gefängnisse des Landes verfrachten. Menschen, die den Horror der libyschen Gefängnisse überlebten, bezeichnen es als „Hölle auf Erden“.

Wie oft habe ich den Satz „Lieber tot als in Libyen“ schon gehört. Auf den Booten der zivilen Seenotrettung, im Erstaufnahmelager in Heidelberg, in improvisierten Lagern in Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze.

Wenn die Frontex-Flugzeuge, die das Mittelmeer beobachten, ihre Funksprüche über den Aufenthaltsort der Flüchtlingsboote absetzen und die sogenannte libysche Küstenwache alarmieren, beginnt für uns ein Wettlauf.

An jenem Tag ist die Anfahrt zu den übermittelten Koordinaten besonders weit. Es dauert mehrere Stunden, bis wir sie erreichen. Mittlerweile ist es Nacht geworden. Der Vollmond scheint, die Sicht ist besser als gewöhnlich.

Vor meinem Fernglas taucht mitten in den schwarzblauen Wellen plötzlich eine schwarze längliche Kontur auf, später kleine Punkte darüber und irgendwann das schwache Licht eines Handy-Displays. Ein Bild, das mir mittlerweile vertraut ist und bedeutet: Das sind die Menschen, die wir suchen. Ihr Motor ist seit Stunden kaputt, das kleine Schiff driftet ziellos in den immer höher werdenden Wellen.

Diesmal sind wir vor den Libyern da.

Zu erschöpft, um etwas zu trinken

Wir entscheiden uns, die durchnässten Menschen so schnell wie möglich an Bord zu nehmen. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis ihr Boot gekentert wäre. Und die Menschen darin als Zahl im Mittelmeer versunken wären. Als Dunkelziffer.

Doch nun sitzen sie an Deck. Viele so erschöpft, dass sie nicht einmal trinken können. Seit drei Tagen sind sie zu dem Zeitpunkt auf dem Meer, ohne Trinkwasser, Toiletten und Nahrung. Ein junger Mann zeigt mir seine Hände, die übersät sind mit Eiterbeulen. Er erzählt: Im Gefängnis in Libyen habe das begonnen.

Dort gab es über Wochen kein Wasser zum Waschen. Drei Frauen sind an Bord, eine von ihnen erst 15 Jahre alt. Amal, 22, ist mit ihrem Freund Daniel hier (Die Namen wurden von der Redaktion geändert).

Ob sie ein Paar sind, frage ich. Lange suchen sie nach einem englischen Wort. „My love“, sagt Daniel irgendwann und zeigt auf Amal. Sie fragt, was das heißt und kichert, als er es ihr sagt. Daniel ist seekrank. Ich auch.

Einige Stunden später, wir erreichen gerade den Windschatten der Küste Lampedusas, bekommen wir die Nachricht, dass wir hier nicht einlaufen dürfen, sondern sofort weiter nach Norden fahren sollen. Vom Innenministerium direkt.

Und so trifft das menschliche Drama an Bord auf das kalte Kalkül der europäischen Machtspielchen. Hintergrund ist ein Streit zwischen Deutschland und Italien.

Am Hafen werden aus den Menschen Zahlen

Der deutsche Staat hatte gerade verkündet, die zivile Seenotrettung finanziell zu unterstützen. Unser Anlegeverbot scheint die Rache der postfaschistischen italienischen Regierung unter Giorgia Meloni zu sein. Nur, dass ihre Rache nicht die deutsche Regierung trifft, sondern die Menschen an Bord.

Nach etlichen Telefonaten und Mails sieht das Maritime Rescue Coordination Center in Rom schließlich ein, dass eine Weiterfahrt bei diesem Wetter undenkbar ist. Am nächsten Morgen dürfen wir in Lampedusa einlaufen. Als wir uns dem Hafen nähern, sitze ich neben Amal auf dem Deck. Sie nimmt meine Hand, ganz selbstverständlich, und hält sie fest.

Am Hafen gehen die Menschen von Bord. Es ist der Moment, in dem sie von Gästen zu Unerwünschten werden. Von Menschen zu Zahlen.

Auf Lampedusa werden die Flüchtlinge von italienischer Polizei und Frontex-Beamten registriert.
Auf Lampedusa werden die Flüchtlinge von italienischer Polizei und Frontex-Beamten registriert.

© REUTERS/Yara Nardi

Während ich meine ärztlichen Kollegen an Land über die medizinischen Fälle an Bord ins Bild setze, beginnen Frontex-Mitarbeiter ihre Befragungen. Sie wollen wissen, wer das Boot gesteuert hat, um diese Person zu verhaften und als „Schleuser“ verurteilen zu lassen.

Ab jetzt werden die Überlebenden nummeriert und verschoben, von einem Lager ins nächste. Ich frage mich, wie lange die sanften und fröhlichen Gesichtszüge von Amal und Daniel dieser Realität standhalten werden.

Dabei ist das, was ihnen widerfahren ist, in Anbetracht der Gefahren noch ein glücklicher Ausgang. Immer wieder treffen wir bei unseren Rettungsaktionen auf überfüllte, schlecht geschweißte Stahlboote aus Tunesien, die mit ihren scharfen Kanten ein großes Problem für uns sind.

Es war jedes Mal ein Drahtseilakt, die Babys, deren Haut von Benzin und Salzwasser rutschig war, über die scharfen Bootskanten zu reichen. 

Hannah Weinhardt

Die Schweißnähte lösten sich oft ohne Vorankündigung, die Boote sanken dann binnen Sekunden und die Menschen mit ihnen. Die Crew, die im Frühjahr an Bord der Nadir war, wurde Zeuge einer solchen Katastrophe.

Nachts wurden sie von der überlasteten italienischen Küstenwache zum Ort des Schiffbruchs gebeten und fanden dort um Hilfe schreiende Menschen und Tote im Wasser. 22 Menschen konnten sie retten, mindestens genauso viele ertranken, unter ihnen drei kleine Kinder.

An manchen Tagen im Juli trafen wir vor der tunesischen Küste so viele Boote, dass unsere Rettungswesten nicht ausreichten. Wir mussten die Menschen also ohne jeden Schutz von dem wackligen Stahlboot auf unser Beiboot bringen. Zuerst die Frauen, Schwangeren und die Säuglinge.

Grenzen werden niemals dicht, nur gefährlicher

Es war jedes Mal ein Drahtseilakt, die Babys, deren Haut von Benzin und Salzwasser rutschig war, über die scharfen Bootskanten zu reichen. Nur wenige Tage nach meinem Einsatz ertrank ein Säugling im Hafen von Lampedusa.

Einige Tage, nachdem wir Amal, Daniel und die anderen abgegeben haben, treffen wir wieder auf ein solches Stahlboot. Doch dieses Boot wirkt auf den ersten Blick etwas stabiler, der Motor funktioniert.

All diese Menschen sind zufällig auf der anderen Seite der EU-Außengrenzen geboren worden.

Hannah Weinhardt

Wir entscheiden uns deshalb, die Menschen aus Syrien und Bangladesch zu eskortieren, verteilen Rettungswesten, informieren die Behörden. Voraus fährt die Nadir, dann das Stahlboot und zuletzt unser Beiboot.

Als wir uns während der Fahrt mit dem Beiboot dem Stahlboot nähern, sehe ich am Bug einen jungen Mann. Als die Sonne aufgeht, schiebt er seine Sonnenbrille auf die Nase, setzt sich in den Bug des Bootes und stützt sich mit beiden Armen auf die Reling. Da sitzt er, vollkommen unerschrocken, und überquert die tödlichste Grenze der Welt.

Die Stahlboote machen der Crew der Nadir zu schaffen. Sie sind oft schlecht verschweißt und scharfkantig. Dieses jedoch ist stabil.
Die Stahlboote machen der Crew der Nadir zu schaffen. Sie sind oft schlecht verschweißt und scharfkantig. Dieses jedoch ist stabil.

© RESQSHIP - Linda Rochlitzer

Egal, wie viele Millionen die EU an korrupte Regierungen und schäbige Milizen bezahlt, egal wie menschenverachtend die Migrationsdebatten geführt werden, in denen unbewaffnete Menschen als Invasoren bezeichnet werden: Grenzen werden niemals dicht, nur gefährlicher.

All diese Menschen sind zufällig auf der anderen Seite der EU-Außengrenzen geboren worden. Und sie haben sich entschieden, diese hochgefährliche Reise anzutreten.

Einige von ihnen habe ich auf dieser Reise begleitet. Niemand, der das erlebt hat, kann weiter glauben, dass Grenzen sinnvoll sind. Was sie anrichten, ist Irrsinn. Mit welchem Recht?

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