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Das Projekt „Kinder des Labyrinths“ zeigt intime Briefe von neun Flüchtlingseltern an ihre Kinder.

© dpa/Yannis Kolesidis

Briefe von Geflüchteten an ihre Kinder: „Sie töteten deinen Onkel und versuchten, deinen Großvater zu töten“

Ein Projekt zeigt Briefe von Flüchtenden an ihre Kinder. Mütter und Väter erklären darin, warum sie ihr Leben riskieren, um in Griechenland eine bessere Zukunft für ihre Töchter und Söhne zu finden.

Von George Tsakiris

Der Brief beginnt direkt mit dem Tod: „Mein Schatz, wir lebten in Baghlan wie immer, als die Taliban eines Tages unser Haus angriffen. Sie töteten deinen Onkel und versuchten, deinen Großvater zu töten. Wir flohen nach Kabul, aber auch dort konnte dein Großvater diesen barbarischen Kämpfern nicht entkommen. Sie töteten ihn und drohten dann, auch deinen Vater zu ermorden. Wir hatten keine andere Wahl, als aus unserer Heimat zu fliehen.“

Der Brief erzählt über die irreguläre Einreise in die Türkei, das Leben dort eineinhalb Jahre lang. „Es war sehr schwierig, und wir wollten euch ein besseres Leben ermöglichen. 

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Deshalb sind wir nach Griechenland gegangen und haben unser Leben in einem Schlauchboot riskiert. Wir mussten unser Leben diesen blutrünstigen Gewässern anvertrauen, und wieder hattest du große Angst: Mama, ich habe Angst, dass wir ertrinken. Während du weintest, umarmte dich dein Vater und versprach: Alles wird gut, wir sind ja bei dir.“

Was sagt man seinem Kind, wenn man gemeinsam auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ist? Wie kann man erklären, dass man sein Zuhause verlassen, in ein Schlauchboot springen und die gefährliche See überqueren muss, um eine bessere Zukunft in Europa zu finden?

Latifa ist eine Englischlehrerin aus Afghanistan. Sie floh mit ihrer Familie nach Griechenland wie Millionen anderer Flüchtlinge aus vielen Ländern. Ihre Tochter Mozhda ist eines der „Kinder des Labyrinths“, ein Projekt, das von dem niederländischen Ehepaar Philip Brink und Marieke van de Velden, er Filmemacher, sie Fotografin, ins Leben gerufen wurde: Neun Flüchtlingseltern haben intime Briefe an ihr Kind geschrieben.

Latifa mit ihrer Tochter Mozhda.

© Marieke van der Velden

Alle haben es zum Zeitpunkt des Schreibens nach Griechenland geschafft und erzählen von ihrer beschwerlichen Reise und der Hilflosigkeit, in die sie die europäische Asylpolitik verstrickt hat. Sie erzählen, was sie sich für ihr Kind für die Zukunft wünschen, aber vor allem, wie sehr sie es lieben.

Es ist mir egal, wo wir landen, solange es ein sicherer Ort ist, an dem du zur Schule gehen kannst.

Latifa in ihrem Brief an ihre Tochter Mozhda

Brink und van der Velden, die in Amsterdam leben, erstellen neben ihren weltweiten Aufträgen für Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen Dokumentar- und Multimedia-Projekte. Ihr Ziel ist es, Zeitgeschichte aus der persönlichen Perspektive der Menschen zu zeigen, die es betrifft.

“Heutzutage geht es in den internationalen politischen Diskussionen über Migration meist darum, wie man die Migrationsströme stoppen und die Mauern noch höher ziehen kann. Es geht zu wenig darum, warum die Menschen fliehen”, sagen sie. “Dabei sollte genau das im Mittelpunkt stehen. Gemeinsam mit den Eltern hoffen wir, durch das Erzählen ihrer Geschichten wieder Gefühl in diese schwierigen Debatten zu bringen. Denn ihre Geschichten sind das Ergebnis, die Realität politischer Entscheidungen. Das dürfen wir nie vergessen.” 

Die herzlichen Briefe und Botschaften, die die Eltern auf Bitten der beiden Dokumentaristen für ihre Kinder hinterlassen, sprechen Bände und sind eine unbestreitbare Antwort an diejenigen in Nordeuropa, die ihre Gründe für die Flucht dorthin infrage stellen. Trotz der Gefahren und der Ungewissheit beflügelt der Gedanke an ein besseres, sichereres Leben für ihre Kinder ihren Mut.

„Mein Schatz, auf dieser Reise, die wir angetreten haben, als du erst vier Jahre alt warst, sind wir auf viele Probleme gestoßen. Du hattest wirklich Angst und sagtest zu uns: Mama, bitte umarme mich. Ich habe dich umarmt und dir gesagt, dass du keine Angst haben musst. Aber du hast immer wieder gesagt: Mama, ich habe Angst, nimm mich in den Arm. Und wenn wir uns umarmten, versuchte ich, dich zu trösten: Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“

Aber in Wirklichkeit hatten sie selbst auch große Angst, schreibt Latifa an Mozhda. „Die Umstände in Afghanistan sind immer noch schrecklich, vor allem jetzt, da die Taliban die volle Kontrolle erlangt haben. Mein einziger Traum ist es, dich, deine kleine Schwester und die fünf Monate alte Aida in ein sicheres Land zu bringen. Es ist mir egal, wo wir landen, solange es ein sicherer Ort ist, an dem du studieren und zur Schule gehen kannst“.

Von Kamerun nach Griechenland

Ein weiterer herzzerreißender Brief ist der, den Fabiola an ihren Sohn Soan schrieb. Nach einer schweren Kindheit mit zwei Entführungen durch Milizen und ständigen Vergewaltigungen floh sie – nur wenige Monate schwanger – aus Kamerun nach Griechenland.

Zwischen Ablehnung, Misshandlung, Verlassenheit, Vergewaltigung, Entführung und sexueller Sklaverei war das Leben für mich nie einfach. Ich hatte jede Hoffnung auf ein Leben verloren und war bereit, das Leben aufzugeben, ich war völlig am Ende.

Fabiola über ihre Flucht aus Kamerun

Ihre Schwangerschaft war nicht ihre Entscheidung, aber sie fühlte instinktiv, dass sie „den unschuldigen Engel“, der in ihr wuchs, schützen musste. Fabiola kam krank und erschöpft auf der griechischen Insel Samos an.

Fabiola hat einen Brief an ihren einjährigen Sohn Soan geschrieben. Sie sind aus Kamerun geflohen und befinden sich jetzt in Athen.

© Marieke van der Velden

„Zwischen Ablehnung, Misshandlung, Verlassenheit, Vergewaltigung, Entführung und sexueller Sklaverei war das Leben für mich nie einfach. Ich hatte jede Hoffnung auf ein besseres Leben verloren und war bereit, es aufzugeben, ich war völlig am Ende. Als ich zum zweiten Mal entführt wurde, geriet ich in sexuelle Sklaverei (...) Es gelang mir unter großen Schwierigkeiten zu entkommen, und ich begann zu betteln, um Geld zu sammeln, damit wir von dort verschwinden konnten.“

Von Kamerun in die Türkei, von der Türkei nach Griechenland – keine der Reisen sei einfach gewesen. „Aber wir haben es geschafft. Als wir in Griechenland ankamen, wusste ich sofort, dass du mein Segen bist, und suchte nach Schutz“, schreibt Fabiola in ihrem Brief. „Ich habe mir versprochen, der Vater und gleichzeitig die Mutter zu sein, die sich jedes Kind wünscht. Heute sind wir immer noch dabei, an Dokumente zu kommen. Aber ich bin froh, dass ich euch Sicherheit bieten konnte und für immer bieten werde“.

Ihre Geschichten sind das Ergebnis der politischen Entscheidungen, die getroffen wurden.

Philip Brink und Marieke van der Velden über ihr Projekt „Kinder des Labyrinths“

Die „Kinder des Labyrinths“ waren für die beiden Produzenten ein unglaublich herausforderndes Projekt, auch auf emotionaler Ebene. „Jeder Brief hat uns zum Weinen gebracht. Die Eltern waren uns schon ans Herz gewachsen, weil sie den Mut hatten, in der verletzlichsten und schmerzhaftesten Phase ihres Lebens mitzumachen und einen Brief zu schreiben, aber dass sie ihr Herz so sprechen ließen, hat uns sehr berührt“, sagen die beiden dem Tagesspiegel.

Diese neun Eltern und ihre Kinder gehörten zu den „Glücklichen“, die die tödlichen Schmuggelrouten überlebt haben. Sie liegen nicht auf dem Grund des Mittelmeers wie die Hunderten von Schiffbrüchigen, die vor kurzem vor Pylos, Griechenland, in einer der tödlichsten Migrantentragödien untergegangen sind.

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