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Ein Glücksfall für den brasilianischen Fußball. Pelé freut sich, als sein ehemaliger Mitspieler Mario Zagallo im März 1970 neuer Nationaltrainer wird.

© dpa/Uncredited

Zum Tod der brasilianischen Legende Mario Zagallo: Ein Vater des modernen Fußballs

Er war der Erste, der sowohl als Spieler als auch als Trainer Fußball-Weltmeister geworden ist. Jetzt ist Mario Zagallo im Alter von 92 Jahren verstorben. Ein Nachruf

Lucien Favre aus dem kleinen Ort Saint-Barthélemy im Schweizer Kanton Waadt war zwölf Jahre alt, als er so etwas wie sein fußballerisches Erweckungserlebnis hatte. Wie so viele Fußballfans seiner Generation verliebte er sich im Sommer 1970 in die brasilianische Nationalmannschaft, die mit scheinbar bedingungslosem Offensivfußball zum dritten Mal nach 1958 und 1962 den WM-Titel gewann.

Erst viele Jahre später, als Favre selbst bereits als Trainer arbeitete, hat er erkannt, dass die Brasilianer 1970 in Mexiko sehr viel mehr zu bieten hatten als permanenten Angriffswirbel. In seiner Zeit bei Hertha BSC hat er das einmal erzählt. Er habe sich die Spiele der Brasilianer noch einmal angeschaut und erst dabei entdeckt, wie gut und geschickt sie vor allem in der Balleroberung gewesen seien. Das, so Favre, sei der Schlüssel ihres Erfolgs gewesen.

Bei der Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland waren es die Holländer, die mit ihrem totalen Fußball das Publikum verzückt haben. Vielen gelten sie daher als die Schöpfer des modernen Fußballs. Doch was die Brasilianer vier Jahre zuvor in Mexiko gezeigt hatten, das hat sich nur unwesentlich vom Voetbal Totaal unterschieden. So wie die Holländer um Johan Cruyff 1974 ihrer Zeit voraus waren, so waren es die Braslianer 1970.

„So viel Angriffsfußball und Ballzauber wie möglich, so wenig Rationalität wie nötig. Heraus kam der perfekte, auf spielerischer Disziplin aufgebaute Offensivfußball“: So haben die Autoren Folke Havekost, Volker Stahl und Hans Vinke in ihrem Buch über die WM in Mexiko die Darbietungen der Seleção zusammengefasst.

Man hätte kaum einen glücklicheren Griff tun können.

Pelé über die Ernennung Zagallos zum brasilianischen Nationaltrainer

Mario Jorge Lobo Zagallo war der Mann, der dieses System erdacht und in der Seleção implementiert hat. In der Nacht zu Samstag ist der Weltmeistertrainer von 1970 im Alter von 92 Jahren verstorben. „Ein hingebungsvoller Vater, liebevoller Großvater, liebevoller Schwiegervater, treuer Freund, erfolgreicher Berufstätiger und ein großartiger Mensch“, würdigte ihn seine Familie bei Instagram. „Ein Patriot, der uns ein Vermächtnis großer Erfolge hinterlässt.“

Nur ein Jahr nach dem Tod von Pelé betrauert Brasilien den Verlust einer weiteren Fußballlegende: Mario Zagallo hatte entscheidenden Anteil am Aufstieg des Landes zur führenden Fußballnation der Welt. Er hat Pelé ebenso trainiert wie Ronaldo, und er war der Erste überhaupt, der als Spieler und als Trainer Weltmeister geworden ist. Nach ihm haben das noch Franz Beckenbauer und Didier Deschamps geschafft.

Mario Zagallo (1931-2024).
Mario Zagallo (1931-2024).

© REUTERS/Enrique Marcarian

Zagallo war an den ersten vier Titelgewinnen der Seleção unmittelbar beteiligt: 1958 in Schweden und 1962 in Chile als Linksaußen auf dem Platz, 1970 als Trainer und 1994 als Technischer Direktor und Berater. Bei der fünften Finalteilnahme Brasiliens 1998, bei der 0:3-Niederlage gegen Gastgeber Frankreich, saß der Mann, den sie „der alte Wolf“ genannt haben, erneut als Chefcoach auf der Bank.

Selbst die nationale Tragödie von 1950, als die Seleção im Maracanã im finalen Gruppenspiel gegen Uruguay den sicher eingeplanten WM-Titel verspielte, hat Zagallo zumindest als Augenzeuge miterlebt. Er war 18 Jahre alt, Soldat und arbeitete damals für ein Sicherheitsunternehmen im Stadion. Nach der 1:2-Niederlage, so hat er es später einmal erzählt, sei er am Boden zerstört gewesen.

Brasilien war nicht nur individuell, sondern auch taktisch überlegen

So sollte es weitere acht Jahre bis zum ersten Titelgewinn der Brasilianer dauern. Bei der WM 1958 gehörte Zagallo als Linksaußen der legendären Mannschaft um den erst 17 Jahre alten Pelé an. Gemeinsam mit Pelé, Garrincha und Vava bildete er bei dem Turnier in Schweden den vielleicht besten Angriff der Fußballgeschichte.

Zagallo, der bei Flamengo unter Vertrag stand und erst einen Monat vor der WM-Endrunde in der Seleção debütiert hatte, lief in allen sechs Spielen auf und erzielte im Endspiel gegen Schweden sein erstes von insgesamt fünf Länderspieltoren (in 33 Einsätzen).

Schon damals hat sich das Publikum von der Leichtfüßigkeit der Südamerikaner, vom Jogo Bonito, ihrem schönen Spiel, verzaubern lassen. Der Triumph der Südamerikaner wurde vor allem als das Resultat ihrer individuellen Überlegenheit gedeutet.

Ich halte diesen Tag für den wichtigsten in meinem Leben.

Mario Zagallo nach dem Gewinn der WM 1970 in Mexiko

Dabei waren die Brasilianer der Konkurrenz bereits 1958 dank ihres neuen, fast revolutionären 4-2-4-Systems auch taktisch überlegen – genau wie zwölf Jahre später in Mexiko unter Zagallo.

Bei der WM 1970 formierte er seine Elf in einem 4-1-2-3-System mit gleich zwei Regisseuren (Gerson und Rivelino) im Mittelfeld. Entscheidend aber war vor allem die taktische Flexibilität des Teams, in dem die Verteidiger ebenso stürmten, wie die Stürmer verteidigten. Nach dem 4:1 im Finale gegen Italien sagte Zagallo: „Ich halte diesen Tag für den wichtigsten in meinem Leben.“

Erst wenige Monate vor dem Turnier, im März 1970, war er zum Nachfolger von Joao Saldanha ernannt worden, der mit seiner irrlichternden Teamführung nicht mehr tragbar gewesen war. Ganz anders sah es unter Zagallo aus, obwohl der zunächst nur dritte Wahl gewesen war.

„Er wusste, wie ein Spieler fühlt, weil er selber einer war. Er war eine Respektperson, die auch uns Respekt entgegenbrachte“, hat Pelé in seiner Autobiografie über Zagallo geschrieben. „Man hätte kaum einen glücklicheren Griff tun können.“

Zagallo, der im armen Nordosten Brasilien aufgewachsen war, sei „ein ernster, ehrlicher, hart arbeitender Mann“ gewesen, hat sich Pelé später erinnert, „ein Mensch, den nichts aus der Ruhe bringen konnte“. Er habe in seiner Karriere viele wichtige Trainer gehabt, hat Brasiliens größter Fußballer gesagt, als Mario Zagallo 2021 seinen 90. Geburtstag feierte, „aber Zagallo war ohne Zweifel der beste von allen.“

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