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In nur drei Wochen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 flüchteten drei Millionen Menschen in die EU.

© dpa/Annette Riedl

Exklusiv

„Zehn Millionen Menschen zusätzlich“: Migrationsforscher warnt vor Flüchtlingswelle ungekannten Ausmaßes bei Sieg Putins

Gerald Knaus spricht von einer „historischen Fluchtkrise“, in der sich Europa befinde. Es fehle aber eine Strategie, um das „Worst-Case-Szenario“ zu verhindern.

Eine Niederlage der Ukraine im Krieg gegen Russland würde nach der Ansicht des Migrationsforschers Gerald Knaus gravierende migrationspolitische Folgen haben. „Wenn Putin sich durchsetzt und die Ukraine den Krieg verlieren sollte, könnte das noch einmal zehn Millionen Menschen zusätzlich zu Flüchtlingen machen“, sagte Knaus dem Tagesspiegel.

Im Ukraine-Krieg droht gegenwärtig eine weitere Eskalation. Am Freitag hatte der Sprecher des Präsidialamtes in Moskau, Dmitri Peskow, erklärt: „Wir befinden uns im Kriegszustand.“ Bislang hatte Kremlchef Wladimir Putin stets von einer „speziellen Militäroperation“ in der Ukraine gesprochen.

Auch in der Nacht zum Sonntag wurde die ukrainische Hauptstadt Kiew zum Ziel russischer Raketenangriffe. Wie die Militärverwaltung der Stadt mitteilte, wurde Kiew am Morgen von mehreren Explosionen erschüttert. 

Die wichtigste Fluchtursachenbekämpfung für Europa ist heute die Unterstützung der Ukraine.

Gerald Knaus, Migrationsexperte

Nach den Worten von Knaus ist die „wichtigste Fluchtursachenbekämpfung für Europa“ heute die Unterstützung der Ukraine. „Wir sind in Europa mitten in einer historischen Fluchtkrise, die alles, was es weltweit an solchen Krisen seit den 1940er Jahren gab, in den Schatten stellen könnte“, fügte er hinzu. Derzeit fehle „eine überzeugende Strategie, um das Worst-Case-Szenario zu verhindern oder uns in der EU darauf vorzubereiten“, kritisierte der Migrationsforscher. 

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Großteil der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland

Innerhalb der EU hält sich der Großteil der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine – gemessen an den absoluten Zahlen – mittlerweile nicht mehr in Polen, sondern in Deutschland auf. Das geht aus einem Bericht der von Knaus geleiteten Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI) hervor. Die Zahlen aus dem Bericht, der in dieser Woche veröffentlicht wird, liegen dem Tagesspiegel vor.

Demnach waren im vergangenen Dezember in Deutschland 1,2 Millionen Schutzanträge von Flüchtlingen aus der Ukraine registriert. In Polen waren es nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 951.435 Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu diesem Zeitpunkt vorübergehenden Schutz beantragt hatten. Ein Jahr zuvor waren es in Polen noch 1,56 Millionen gewesen, in Deutschland hingegen 1,02 Millionen.

Im Februar hielten sich nach Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) in Deutschland 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf. Seit einem Jahr steigen die vom AZR festgehaltenen Zahlen kontinuierlich an. Im März 2023 hatte das Ausländerzentralregister noch 1,06 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine registriert. In den Zahlen des Registers sind auch Kriegsflüchtlinge berücksichtigt, die Deutschland inzwischen wieder verlassen haben.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus fordert eine größere Solidarität von jenen Staaten in der EU, die bislang vergleichsweise wenige Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen haben.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus fordert eine größere Solidarität von jenen Staaten in der EU, die bislang vergleichsweise wenige Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen haben.

© dpa/Francesco Scarpa

Ukrainerinnen und Ukrainer müssen laut einer EU-Richtlinie, die nach der russischen Invasion vom Februar 2022 aktiviert wurde, nicht ins Asylverfahren. In Deutschland erhalten sie Bürgergeld.

Nach der Ansicht des Migrationsforschers Knaus setzen sich bei der Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen jene Trends fort, die bereits in einem Bericht der „Europäischen Stabilitätsinitiative“ vom Februar 2023 festgestellt worden waren. Demnach fliehen Ukrainerinnen und Ukrainer vorrangig in Länder, in denen eine slawische Sprache gesprochen wird.

Wenn man die jeweilige Gesamtbevölkerung zum Maßstab nimmt, nahmen Tschechien und Bulgarien im vergangenen Dezember EU-weit die meisten Flüchtlinge auf. Dort lag der Anteil bei 3,4 Prozent (Tschechien) und 2,6 Prozent (Bulgarien), während es in Deutschland lediglich 1,4 Prozent waren. „Pro Kopf liegen einige Länder weiterhin vor Deutschland – trotz des Bürgergelds“, so Knaus.

Den geringsten Anteil an Ukraine-Flüchtlingen nahm derweil Frankreich mit 0,09 Prozent auf. Allein das Bundesland Nordrhein-Westfalen habe mit rund 230.000 Menschen bislang so viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen wie Frankreich und Italien zusammen, sagte Knaus weiter. Nach seinen Worten wäre jetzt eine gute Gelegenheit, „europäische Solidarität“ mit jenen Ländern wie Deutschland, Bulgarien und Tschechien zu zeigen, die viele Flüchtlinge aufnehmen.

In Nordrhein-Westfalen ist im Januar die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahresmonat um 3,35 Prozent angestiegen. Dies geht aus Zahlen hervor, die das Ausländerzentralregister auf Anfrage des Mediendienstes Integration zusammengestellt hat. Den Zahlen zufolge fiel in Berlin der Anstieg noch deutlicher aus. Dort waren im Januar 62.777 Ukraine-Flüchtlinge registriert – eine Zunahme um 19,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Nach Angaben des Berliner Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten liegt allerdings „das aktuelle Ankunftsgeschehen unter dem Niveau der letzten Wochen“.

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