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Dalal Al-H. und Akram T. nach der Aussprache im Bundestag.

© Fionn Große

Das lange Leid der Eziden: Nach dem Horror in der Heimat kommt die Angst vor der Abschiebung

Im Januar erkannte der Bundestag den Genozid des IS an den Eziden im Nordirak an. Die Lage dort ist weiter unsicher. Trotzdem schieben viele Bundesländer Eziden ab. Was Betroffene erleben.

Alles, worum Akram T. bittet, ist, bei seiner Familie bleiben zu dürfen. Hier in Deutschland, wo er mit seiner Frau und seinen drei Kindern sicher ist. Wo sie nicht verfolgt werden. Wo sie weit weg sind von dem Ort, an dem ihnen unfassbares Leid angetan wurde.

Akram T. und seine Frau Dalal Al-H., beide um die 40 Jahre alt, sind Eziden und stammen aus dem Dorf Kodscho in der Shingal-Region im Nordirak – jener Gegend, in der IS-Terroristen 2014 ein Massaker anrichteten.

5000 bis 10.000 Ezid:innen fielen den brutalen Angriffen der IS-Truppen damals zum Opfer. Sie ermordeten vor allem Männer und ältere Frauen. Kinder zwangen sie dazu, Soldaten zu werden. Mädchen und Frauen machten sie zu Sklavinnen, vergewaltigten sie systematisch. Mehr als 400.000 Menschen wurden vertrieben.

Weltweit gibt es rund eine Million der Anhänger der Glaubensgemeinschaft. Seit Jahrhunderten werden sie diskriminiert. In der ethnisch-religiösen Minderheit sehen viele Muslime Teufelsanbeter. Der IS trieb ihre Verfolgung grausam auf die Spitze.

Von Abschiebung bedroht

Akram T. verlor seine Mutter an den IS-Terror, viele seiner Familienmitglieder wurden verschleppt. Seine Frau Dalal Al-H. hat ein Jahr in Gefangenschaft verbracht. „Ich musste mit ansehen, wie meine fünf Monate alte Tochter vor meinen Augen umgebracht wurde“, erzählt sie. Immer wieder seien ihre Kinder und sie in dieser Zeit gequält worden. Sie selbst sei vergewaltigt worden. Noch immer spürt sie die Folgen. Bis heute leidet sie an Rückenschmerzen, ist traumatisiert.

Ich musste mit ansehen, wie meine fünf Monate alte Tochter vor meinen Augen umgebracht wurde.

Dalal Al-H., Ezidin über den IS-Terror

Dalal Al-H. kam, zunächst nur mit ihren Kindern, nach Niedersachsen. Akram T. folgte ihnen 2018. Den Genozid, den der IS an Ezid:innen verübt hat, hat der Bundestag erst im Januar dieses Jahres anerkannt. Trotzdem soll Akram T. nun das Land verlassen.

Und damit ist er nicht der einzige Ezide. Mehrere Bundesländer verfahren derzeit ähnlich. Auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern gibt es bekannte Fälle. Der Umgang passt zur Stoßrichtung in der deutschen Asylpolitik, die nicht erst seit den Migrationsbeschlüssen Anfang November restriktiver wird. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte schon zuvor medienwirksam angekündigt, Deutschland müsse „endlich im großen Stil“ diejenigen abschieben, die kein Recht hätten, hier zu bleiben. Das gilt offensichtlich auch für Eziden. Ihre Interessenvertreter berichten von enormer Verunsicherung. Im Oktober protestierten einige bereits mit einem Hungerstreik vor dem Bundestag.

Aussprache im Bundestag

Mitte November luden Frank Schwabe (SPD), der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, sowie die Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur (ebenfalls SPD) deshalb Eziden zu einem Gespräch in den Bundestag ein. Es sollte darum gehen, welche Mittel zur Verfügung stehen, gegen Abschiebebescheide vorzugehen.

Türk-Nachbaur betonte, dass es in der Verantwortung der Bundesländer liege, einen Abschiebestopp für Eziden zu verhängen. Berlin etwa hat dies bereits getan. In anderen Ländern werde das ebenfalls angestrebt. Die Innenministerkonferenz könne letztlich einen Abschiebestopp beschließen. Doch ob es in nächster Zeit zu einem Beschluss kommt, ist fraglich.

Akram T.s bürokratisches Verhängnis ist, dass seine Frau und Kinder als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, also aus humanitären Gründen, ohne Asylverfahren und als Teil einer festgelegten Zahl von Geflüchteten. Dadurch besteht rechtlich kein Anspruch auf Familienzusammenführung. Deshalb war Akram T. auf eigene Faust in die Bundesrepublik eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sieht bei ihm jedoch keinen Anspruch auf Asyl. Die Behörde argumentiert, die Sicherheitslage im Irak sei inzwischen besser – und Akram T. müsse ja nicht zurück in die Shingal-Region gehen. Die Ausländerbehörde in Helmstedt will die Abschiebung vollstrecken lassen.

Schutzquote halbiert

Bereits 2018 beurteilte das Auswärtige Amt die Lage für Ezid:innen im Nordirak neu und kam zu dem Schluss, dass keine Gruppenverfolgung mehr vorliegt. Seither werden deutlich mehr Asylanträge von Ezid:innen abgelehnt. Lag die Schutzquote im Jahr 2017 noch bei mehr als 90 Prozent, war sie im vergangenen Jahr schon auf 49 Prozent gesunken.

In diesem Jahr seien bereits 135 Personen in den Irak abgeschoben worden, sagte ein Vertreter des Bundesinnenministeriums unlängst im Bundestagsausschuss für Menschenrechte. Unklar sei jedoch, wie viele Ezid:innen darunter waren. Der Bund erfasse die Religionszugehörigkeit nicht, hieß es.

49
Prozent betrug die Schutzquote für Ezid:innen im Jahr 2022.

Eigentlich hatte die Bundesregierung auf eine Frage der Linken im Februar dieses Jahres klargestellt, dass nach Einzelfall entschieden werden soll. Die vorhandenen Erkenntnisse zur individuellen Person sollen auch ausschlaggebend sein. Im Fall von Akram T. stellt sich die Frage, ob das Bamf diese Erkenntnisse berücksichtigt hat. „Wir wären gezwungen, unsere Ehe zu beenden. Meine Frau kann nicht ins Täterland zurück“, sagt Akram T.. Selbst in den kurdischen Gebieten sei es nicht sicher.

Dalal Al-H. sagt, ihr gehe es körperlich und psychisch immer noch sehr schlecht, sie sei darauf angewiesen, dass ihr Mann hierbleibt. Der Fall soll nun vor die Härtefallkommission des Landes Niedersachsen kommen.

In Abschiebehaft in Darmstadt

Ähnlich ergeht es Faris Khjoo. Er sitzt seit rund einem Monat in Darmstadt in Haft. Der 31-jährige Ezide wurde in Shingal geboren und ist seit 2021 in Deutschland. Seine Schwester, erzählt er per Whatsapp, wurde 2014 von IS-Terroristen entführt, seine Mutter und sein Vater seien während des Völkermords in den Bergen Shingals gestorben, er selbst musste fliehen.

Mehrmals hätten ihn die kurdischen Streitkräfte inhaftiert. Also habe er versucht, sich in Bagdad ein Leben aufzubauen, doch auch dort sei er immer wieder bedroht worden.

Faris Khjoo, aufgenommen in Frankfurt (Main). Er sitzt seit Mitte Oktober in Abschiebehaft in Darmstadt.  
Faris Khjoo, aufgenommen in Frankfurt (Main). Er sitzt seit Mitte Oktober in Abschiebehaft in Darmstadt.  

© privat

Durch die Arbeit in der irakischen Hauptstadt habe er etwas Geld verdient und schließlich 3000 Euro an einen Schleuser bezahlt, um nach Deutschland zu kommen. So hat er es in einer Anhörung erzählt, wie offizielle Dokumente zeigen. In Hessen stellte er einen Antrag auf Asyl, diesen lehnte das Bamf 2022 ab.

Seine Klage dagegen wies das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ab. Seit dem 30. Mai 2022 ist er „vollziehbar ausreisepflichtig“. Strafrechtlich ist er nie in Erscheinung getreten, heißt es. Auch hatte er hier einen festen Job. Dass ezidische Flüchtlinge abgeschoben werden, obwohl sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, ist keine Ausnahme.

Anwalt wirft Bamf Willkür vor

Am 18. Oktober wurde Khjoo festgenommen, weil Fluchtgefahr bestanden habe. Bereits am 23. Oktober sollte er abgeschoben werden. Doch weil er der Polizei kurzzeitig entkam, scheiterte die Rückführung. Vorerst sitzt er weiter in Haft.

Sein Anwalt Amin Murat Kasim hat einen Asylfolgeantrag gestellt. Doch das Bamf sieht darin nur den Versuch, Zeit zu gewinnen, erzählt Kasim. Die Behörde selbst wollte sich auf Anfrage des Tagesspiegels ohne Schweigepflichtsentbindung nicht äußern. Das hessische Innenministerium ließ eine Anfrage zum Fall unbeantwortet.

Kasim sagt, er habe ständig mit solchen Fällen zu tun. Dem Bamf bescheinigt er reine Willkür bei Asylentscheidungen. Teilweise würden junge Frauen abgeschoben, die niemanden im Irak hätten. Von einem anderen Betroffenen habe er gehört, er sei in Bagdad direkt inhaftiert worden und habe sich nach sechs Monaten freikaufen müssen.

Ronya Othmann berichtet von Besuch in Shingal

Wie die Lage im Irak ist, darüber kann die deutsche Schriftstellerin Ronya Othmann berichten. Sie ist Tochter eines kurdisch-ezidischen Vaters und war erst im vergangenen Jahr in Shingal und in der kurdischen Autonomieregion. Dort leben viele Ezid:innen unter verheerenden Bedingungen in Camps, die von der kurdischen Regionalregierung kontrolliert werden.

Manche kehrten nach der militärischen Niederlage des IS auf eigene Faust zurück in die Shingal-Region, auch Sindschar genannt. „Weil die Situation in den Camps noch schlechter ist“, so Othmann. Doch in der Shingal-Region hätten sie derzeit ebenfalls keine Zukunft.

Denn verschiedene nicht-staatliche Milizen bedrohen die Ezid:innen in der Region. Und der politische Status Shingals ist bis heute ungeklärt. Die irakische Regierung und die kurdische Autonomieregion hatten 2020 unter Beteiligung der USA und der UN das sogenannte Sindschar-Abkommen ausgehandelt. Es sieht vor, durch den Wiederaufbau der Region und Entschädigungszahlungen die Rückkehr Vertriebener zu ermöglichen. Dafür müsste die irakische Armee allerdings zunächst für Sicherheit sorgen, und der vertrauen viele Ezid:innen nicht.

Ich habe in meinem Leben noch nichts Vergleichbares gesehen.

Ronya Othmann, Schriftstellerin, über ihren Besuch in Shingal

Als Othmann von Bagdad nach Shingal reiste, sei sie überall auf Checkpoints verschiedener Milizen gestoßen. Leute seien mit Waffen herumgefahren. In Shingal selbst sei es totenstill gewesen. Teils gebe es Massengräber. Der Großteil sei zerstört.

Sprengfallen und Bombardierungen

Und ständig habe man Angst, Opfer einer der vielen Sprengfallen des IS zu werden, erzählt Othmann. Außerdem werde die Region von der türkischen Luftwaffe bombardiert, die ihrerseits die kurdischen Gebiete angreift.

„Ich habe in meinem Leben noch nichts Vergleichbares gesehen“, sagt Othmann, die in München geboren ist.

Die Journalistin und Schriftstellerin Ronya Othmann, unter anderem Autorin von „Die Sommer“, reiste im vergangenen Jahr nach Shingal, um sich selbst einen Eindruck von der Lage dort zu verschaffen.
Die Journalistin und Schriftstellerin Ronya Othmann, unter anderem Autorin von „Die Sommer“, reiste im vergangenen Jahr nach Shingal, um sich selbst einen Eindruck von der Lage dort zu verschaffen.

© Cihan Cakmak

Sie findet es absurd, dass Ezid:innen wieder in den Irak abgeschoben werden. „Das sind oft höchst traumatisierte Menschen“, sagt Othmann. Wer nun abgeschoben werde, stehe vor der Wahl, unter verheerenden Bedingungen in einem Zelt zu leben oder auf eigene Faust ein Haus aufzubauen in einer Region, die bombardiert werde.

Der Irak-Experte Thomas Schmidinger bestätigt das. „Die Mischung aus der ungeklärten politischen Lage und dem Vorhandensein von Tätern und Täterangehörigen in der Region führt dazu, dass auch rund neuneinhalb Jahre nach dem Genozid viele Geflohene nicht zurückkehren wollen“, sagt der österreichische Politikwissenschaftler, der im Irak lehrt.

Ob Abschiebungen von Eziden in den Irak zumutbar sind, sei eine politische Frage, die in Deutschland zu klären sei, sagt er. „Aber wenn diese Menschen verfolgt wurden und integriert sind, gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, sie abzuschieben, gerade nach der Anerkennung des Genozids durch den Bundestag“, erklärt Schmidinger. Auch wenn keine Asylgründe mehr vorliegen mögen, „könnten die Behörden großzügiger sein und dieser Anerkennung des Genozids auch etwas folgen lassen“.

Zum Fall von Akram T. und seiner Familie sagt er: „Ich kann die Rechtslage in Deutschland nicht bewerten. Aber eine bestehende Familie auseinanderzureißen, ist meines Erachtens aus humanitären Gründen eine Katastrophe.“ Und wer aus Shingal komme und abgeschoben werde, lande mit einiger Wahrscheinlichkeit in Kurdistan, wo er oder sie keine Perspektive habe.

Wir dürfen nicht die Falschen abschieben.

SPD-Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur

„Eziden werden nicht sofort umgebracht, wenn sie in den Irak kommen“, aber Möglichkeiten, sich dort einen vernünftigen Lebensunterhalt aufzubauen, sieht der Politikwissenschaftler nicht. „Geschweige denn ausreichend Möglichkeiten für eine notwendige psychotherapeutische Behandlung.“

Der Bundesvorsitzende des Zentralrats der Eziden, Irfan Ortac fordert deshalb einen Abschiebestopp für Eziden. Zugleich dürfe der Wiederaufbau der Shingal-Region, den der Bund unterstützen will, keine leere Hülse bleiben, sagt er.

SPD-Politiker wollen sich für Stichtagsregelung starkmachen

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Türk-Nachbaur und Frank Schwabe sind sich aber auch einig, dass Deutschland nicht alle Ezid:innen aufnehmen kann. Deshalb plädieren sie für eine Stichtagsregelung. „Die Idee ist, dass ezidische Menschen, die bis zu einem bestimmten Stichtag hier waren, bleiben dürfen.“ Über das Datum müsse man verhandeln. Wer Straftäter sei, müsse das Land allerdings verlassen. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel sagt sie auch: Menschen, die gut integriert seien, müssten hier eine Perspektive haben. „Wir dürfen nicht die Falschen abschieben.

Für manche Betroffene kommen solche Appelle aber zu spät. Anfang der Woche soll dem Bayerischen Flüchtlingsrat zufolge wieder eine ezidische Familie abgeschoben worden sein. Ob Akram T. und seine Familie oder Faris Khjoo bleiben dürfen, werden die nächsten Wochen zeigen. Bis dahin müssen sie weiter bangen – trotz ihrer Traumata.

Faris Khjoo schrieb kürzlich, er könne kaum noch aufstehen. Sein psychischer Zustand werde immer schlechter. „Ich will nur, dass dieser Albtraum endet.“

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