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Israelische Streitkräfte bergen Leichen von israelischen Bewohnern aus einem zerstörten Haus.

© dpa/Ilia Yefimovich

Ukrainisches Kriegstagebuch (174): Zu viel Leid, zu viele Fronten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

8.10.23

Am vergangenen Freitag erreichten mich ungewöhnlich viele Nachrichten, die größtenteils denselben Inhalt hatten. Sowohl meine Freund*innen als auch die Verwandten fragten, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, meine für nächste Woche geplante Reise in die Ukraine zu verschieben oder vielleicht sogar abzusagen. 

Angriffe im Zentrum Charkiws

Einen Tag zuvor haben die russen das Dorf Hroza in der Region Charkiw bombardiert, wobei über fünfzig der etwa dreihundert Bewohner ums Leben kamen. In der darauf folgenden Nacht wurde das Zentrum von Charkiw beschossen. (Dies kam nicht gänzlich überraschend, doch in den vergangenen Monaten war es dort vergleichsweise ruhig). In einem der getroffenen Gebäude wurden ein neunjähriger Junge und seine Großmutter tot aufgefunden.  

Ich bedankte mich bei allen und versuchte zu erklären, dass ich dennoch an meiner geplanten Reise festhalten würde. Immerhin warten in der Heimatstadt meine Musikerkollegen auf mich, der Proberaum ist bereits gebucht, und unsere Konzerte in Charkiw, Odessa und Lwiw nächste Woche sind bereits angekündigt.

Weitersingen, um zu Leben

Ich war mir bewusst, dass meine Worte etwas pathetisch klingen könnten, was mir eigentlich nicht entspricht, dennoch schrieb ich: „Es muss weitergehen! Wenn wir jetzt alles ausfallen lassen, freuen sich sicherlich unsere Feinde darüber. Es geht um das Leben, und das sollten wir leben!” “Ja, genau,” – antwortete meine Schwester. „Es geht um das Leben, also denke bitte nochmal darüber nach.“

Es muss weitergehen! Wenn wir jetzt alles ausfallen lassen, freuen sich sicherlich unsere Feinde darüber. Es geht um das Leben, und das sollten wir leben!”

Yuriy Gurzhy, Musiker und Kolumnist.

Als ich am Samstagvormittag die ersten Meldungen aus Israel las, keimte zunächst die absurde Hoffnung in mir auf, dass es sich möglicherweise um einen Fehler handeln könnte. Ich dachte an Szenen aus zeitgenössischen Filmen, in denen jemand mithilfe eines simplen Algorithmus im Netz Fake News erstellt und verbreitet, um andere zu täuschen. 

Grausame Nachrichten

Wie wohl für die meisten in der Ukraine geborenen Juden, fühlte es sich auch für mich immer so an, als wäre ich auf familiäre oder freundschaftliche Weise mit der Hälfte von Israel verbunden. Ich schrieb sofort meine Cousine an, die in Israel aufgewachsen ist, und fragte, wie es ihrer Familie dort geht. „Alles wie immer, denk ich“, – schrieb sie zurück und ich konnte mich für einen ganz kurzen Blick entspannen. Doch dann kamen fortlaufend neue Nachrichten, eine brutaler als die nächste, und es wurde schnell klar, dass die grausamen News doch absolut real waren. 

Obwohl ich an meinem letzten Tag in Berlin noch einiges zu erledigen hatte, verharrte ich für die nächsten Stunden auf dem Boden, meinen Laptop vor mir, während ich zwischen den Nachrichtenseiten im Browser hin- und herwechselte.

In diesem Modus befand ich mich zuletzt Ende Februar 2022, in den ersten Tagen der Großinvasion russlands. Ich hätte mir gewünscht, dies niemals wieder durchleben zu müssen. Meine Cousine meldete sich erneut. Es stellte sich heraus, dass sie die Nachrichten noch nicht gehört hatte, als wir miteinander sprachen.

Bei der Nachricht über den Rave in der Negev-Wüste an der Grenze zu Gaza, bei dem die Besucher beschossen und als Geiseln genommen wurden, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Eine langjährige Freundin, die in den frühen Neunzigern von Charkiw nach Israel umzog, erzählte mir, dass ihrem Sohn, der als Barkeeper in Tel Aviv arbeitet, vor wenigen Tagen ein Job bei diesem Rave angeboten wurde. Er lehnte das Angebot zwar ab, doch einige seiner Kollegen entschieden sich hinzufahren. Bisher haben sie sich noch nicht bei ihren Familien zurückgemeldet.

Bilder und Realitäten verschwimmen

Am späten Samstagnachmittag ging es einfach nicht mehr. Unzählige, nicht aufhörende Nachrufe, Namen und Bilder der Opfer – darunter auch Sergey Gredeskul, ein 81-jähriger Physiker aus Charkiw, und seine Frau, die in ihrem Zuhause in der südisraelischen Stadt Ofakim von HAMAS-Terroristen ermordet wurden. Und irgendwann ist es unmöglich, in meinem Facebook-Feed zwischen den Beiträgen aus der Ukraine und denen aus Israel zu unterscheiden. 

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