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Von russischen Raketen zerstörtes Haus in Charkiw.

© imago/Agencia EFE/IMAGO/Esteban Biba

Ukrainisches Kriegstagebuch (171): Explosive Glückwünsche zum Weltfriedenstag

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

21.9.2023
In die erste Klasse kam ich am 1. September 1982. Der Zweite Weltkrieg war zu diesem Zeitpunkt seit 37 Jahren vorbei. Dennoch war das Thema Krieg in der Sowjetunion allgegenwärtig – etwa in Form von unzähligen Büchern, Kriegsfilmen oder Kriegsliedern. Jedes Jahr am 9. Mai haben wir Schüler an den vielen Denkmälern, die es in Charkiw gab, die Kriegshelden geehrt. Zahlreiche Straßen, Plätze, Schulen und Fabriken der Stadt trugen ihre Namen.

Unsere Familie residierte in der Straße des 23. August, benannt nach dem denkwürdigen Tag im Jahr 1943, an dem die Nazis aus unserer Stadt vertrieben wurden. Meine Schule lag in der Derewjanko Straße, die den Rote-Armee-Soldaten Oleksij Derewjanko ehrte, der im Kampf für Charkiw gefallen war.

Über den Frieden wurde mindestens genauso oft gesprochen wie über den Krieg. In einem Land, das über vier lange Jahre gegen Nazi-Deutschland kämpfte und Millionen seiner Bürger*innen dabei verlor, verstand man den wahren Wert des Friedens nur allzu gut. Doch das Friedenskonzept, wie wir es bereits in der ersten Klasse kennenlernten, erschien uns mitunter seltsam und nicht ohne Widersprüche. Im späteren Alter hätten wir als Schüler sicherlich viele Fragen dazu gestellt, aber mit sieben Jahren waren wir noch nicht in der Lage, sie zu formulieren. Außerdem wären solche Fragen zu dieser Zeit sicherlich unerwünscht gewesen.

Es wurde oft betont, dass Frieden das Wichtigste überhaupt ist und, dass wir uns und allen anderen ausschließlich Frieden wünschen. Dennoch schien es, dass es doch manchmal notwendig sei, Kriege zu führen, um diesen Frieden zu erhalten.

Kürzlich wollte ich meinem Sohn die Fibel aus meiner Schulzeit zeigen. Wie sich herausstellte, findet man sie ganz schnell online – Dutzende russischer Websites bieten die Ausgabe von 1980 in verschiedenen Formaten an, anscheinend ist sie nie aus der Mode gekommen.

Lesen lernten meine Altersgenossen und ich anhand einfacher kurzer Texte wie „Roman nimmt Kreide. Roman schreibt „Mama. Moskau. Frieden“ oder „Die rote Fahne weht auf dem Roten Platz. Daneben stehen sowjetische Krieger. Ruhm den sowjetischen Kriegern! Ruhm dem Frieden auf Erden!“

Über den Krieg in Afghanistan wurde ungern gesprochen

Dieser vermeintlich natürliche Zusammenhang zwischen Kriegern und Frieden wurde häufig betont und sollte wohl im Gedächtnis der Schulkinder verankert werden. „Rosa züchtet Rosen. Rosen sind rot. Rosa bringt die Rosen einem Kriegsveteranen. Er kämpfte für Frieden auf Erden.“

Während meiner Schulzeit kämpfte die sowjetische Armee für Frieden auf Erden in Afghanistan, aber über diesen Krieg wurde nur ungern gesprochen – obwohl wir immer wieder hörten, dass der Vater oder ein Nachbar einer meiner Klassenkamerad*innen dort war oder nicht mehr zurückkehrte.

Vor wenigen Tagen erfuhr ich, dass am 21. September auf der Initiative der UNO der Weltfriedenstag begangen wird. Allerdings konnte ich keine genauen Informationen darüber finden, wie man diesen Tag feiern sollte. Laut Wikipedia ruft der Ökumenische Rat der Kirchen alle Kirchen weltweit dazu auf, an diesem Tag gemeinsam für den Frieden zu beten.

Aber was wäre dann das Alternativprogramm für die Atheisten? Eine Fahrraddemo mit einem Friedensfähnchen an jedem Fahrrad? Eine gemeinschaftliche Aufführung von John Lennons „Imagine“? Oder vielleicht das Malen eines gigantischen Friedenszeichens am Alexanderplatz?

Es scheint, dass die russen die Einzigen sind, die einen klaren Plan für diesen Feiertag haben. Immerhin ist in russland, das sich als Nachfolger der UdSSR betrachtet, jeden Tag ein Friedenstag, und das schon seit neun Jahren. Getreu der Logik der sowjetischen Fibel führt die russische Armee ihren unermüdlichen Kampf für den Frieden fort, auch an Orten, an denen bereits Frieden herrschte, bevor sie ankam.

Und so wurde meine Heimatstadt Charkiw gleich am frühen Morgen mit sechs Explosionen beglückwünscht. Weitere Glückwünsche folgten – massiv beschossen wurden auch Tscherkassy und Chmelnytsk. Happy Peace Day from russia!

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