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February 16, 2023, Kharkiv, Ukraine: National flags fly above the graves of perished Ukrainian defenders on the Alley of Glory at cemetery N18, Kharkiv, northeastern Ukraine. (Credit Image: © Vyacheslav Madiyevskyy/Ukrinform via ZUMA Press Wire) / action press

© action press/Ukrinform via ZUMA Press Wire /

Ukrainisches Kriegstagebuch (116): Mein Freund Rostik aus Charkiw

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Wenn ich heute anderen Leuten Rostik vorstelle, muss ich kurz rechnen. Wann haben wir uns getroffen? 10. Klasse war es, der erste Schultag, wir waren beide sechzehn. Es kann nur 1991 gewesen sein …mein Gott, haben wir uns tatsächlich vor 32 Jahren kennengelernt? Wahnsinn! 

Bei uns waren die neunziger Jahre eine Zeit der wilden Veränderungen. Auch meine Schule hatte sich neu erfunden und wurde zum Lyzeum. Keiner wusste so genau, was das heißt – in Charkiw gab es seit vielen Jahrzehnten keine Lyzeen mehr. Während bei uns früher, als wir als normale Schule galten, fast nur Kinder aus der Nachbarschaft im Unterricht saßen, kamen ins Lyzeum Schüler aus der ganzen Stadt.  

Vereint in der Plattensammlung

Wir unterhielten uns mit Rostik, und es stellte sich heraus, dass er in einem Bezirk am anderen Ende der Stadt lebte und täglich eine Stunde brauchte, um in die Schule – Entschuldigung, das Lyzeum – zu kommen. „Und was hörst du für Musik?”, muss ich ihn gefragt haben, denn in meiner Welt war es die wichtigste Frage überhaupt. Umso mehr habe ich mich über Rostiks Antwort gefreut, da er auf das Zeug stand, das ich damals auch gefeiert habe: Beatles, Rolling Stones, Elvis. In den Jahren zuvor hat Melodija, die einzige Plattenfirma der Sowjetunion, mit einer Verzögerung von mehreren Jahrzehnten ihre Alben rausgebracht; wir hatten sie in unseren winzigen Plattensammlungen. Noch besser: Auch Rostik spielte Instrumente, Gitarre und Klavier. Er lud mich zu sich nach Hause ein. 

Der lange Weg lohnte sich, da Rostik stolzer Besitzer einer E-Gitarre und eines Basses war. Unsere Stimmen klangen gut zusammen, wir sangen „I’ve just seen a Face“ und „You Really got a Hold on Me“ und beschlossen, eine Band zu gründen. 

Ein Stück Heimat in Berlin

Ich habe auch Rostiks Eltern kennengelernt, sie waren älter als meine und sehr nett. Sie hatten kein Problem mit dem Lärm, den wir beim Proben in seinem Zimmer veranstalteten. Wir sangen auf Englisch, wie alle unseren Vorbilder, die einzige Ausnahme war das ukrainische Volkslied „Tschorniotschka“. 

Nach der Schule studierte Rostik Informatik, brach ab, arbeitete in einem Casino, ging dann an die Jura Akademie. Es gab eine Zeit, in der wir kaum Kontakt hatten. Ich wusste, dass er inzwischen nach Kiew gezogen und nun im Baugewerbe tätig war. Irgendwann fanden wir uns dann wieder. Und wenn ich in den vergangenen Jahren in Charkiw war, haben wir uns gesehen. Nach dem Tod der Mutter hat Rostik dort oft seinen Vater besucht. 

Der ist inzwischen 91. Letzte Woche sind die beiden in Berlin angekommen. Gemeinsam gehen wir zu Safe Space im Panda Platforma. Seit einem Jahr organisieren die Panda-Macher, die sonntags im kleineren Hof der Kulturbrauerei Konzerte und Lesungen veranstalten, regelmäßig Treffen von Geflüchteten aus der Ukraine. Eine tolle Initiative, die immer mehr Teilnehmer*innen anzieht. Mittlerweile sind es so viele, dass Panda mehr Platz braucht. Heute dürfen sie die Räume eines Fotoateliers benutzen, das direkt über Panda Platforma liegt.        

„Anna und Martha gehen baden“ – mit diesem Satz überrascht uns plötzlich Rostiks Vater, der ihn vor 85 Jahren im Deutschunterricht gehört hat. Neun war er, als der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion ausbrach. Im vergangenen Jahr, als die Invasion begann, verließ er sein Haus erst am 10. März, alle anderen Mieter waren da schon weg. Bomben und Raketen fielen auf Charkiw, und russische Bodentruppen waren in die Stadt eingedrungen, als Rostiks Vater seine Cousine in Belgorod anrief. „Die tun euch nichts an, keine Angst! Alles wird gut, in wenigen Tagen seid Ihr befreit”, versuchte sie ihn zu beruhigen. Über Putin wollte sie nichts hören und legte auf. Seitdem haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. 

Im Panda spricht man heute auf Ukrainisch und Russich, singt ukrainische Lieder und strickt Mützen für die Verteidiger an der Front. 78 Jahre nach dem Sieg über Nazi-Deutschland, mitten in Berlin, umgeben von Landsleuten, fühlt sich Rostiks Vater für zwei Stunden fast wie zu Hause.  

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