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Nach der Evakuation aus Bachmut. Yelena Vyacheslavskaya und ihre siebenjährige Tochter Kira in Shakhtarsk in der russisch besetzten Region Donezk.

© REUTERS/ALEXANDER ERMOCHENKO

Ukrainisches Kriegstagebuch (114): Alte Songs in neuem Licht

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

Heute Abend bin ich eingeladen, nach der Diskussion in den Münchner Kammerspielen über die in den letzten 12 Monaten entstandene ukrainische Musik zu erzählen und bin sehr aufgeregt, denn in solchem Format habe ich es noch nie gemacht. 

Nichts hätte ich mir lieber gewünscht, als über den Krieg in meiner Heimat als eine Sache der Vergangenheit zu sprechen, doch leider geht das noch nicht. Jedoch als Musiker und Musikfan bin ich vom Output meiner ukrainischer Kolleg*innen tief beeindruckt. 

Es ist faszinierend und gleichzeitig erschreckend, wie die ganze Musik in der Ukraine gerade automatisch eine zusätzliche Dimension bekommt, und manche alten Songs im heutigen Kontext plötzlich anders klingen - wie zum Beispiel der vor über 100 Jahren geschriebenes Stück “Oj u luzi chervona kalyna”.   

Dutzende Versionen von diesem Lied wurden in den letzten Monaten veröffentlicht, sogar eine von den britischen Rock-Dinosauriern Pink Floyd. Ich habe es oft auf den Straßen von Lviv gehört und Videos gesehen, wie man den Song im Chor in der Kiewer U-Bahn während des Beschusses durch russische Raketen sang.  

Kaum bin ich am Samstag wieder in Berlin angekommen, habe ich einen Termin mit Deutschlandfunk Kultur - wir sprechen mit der Moderatorin Christine Watty sowie Jan Müller von Tocotronic über ein Jahr Krieg in der Ukraine. Das machen wir bereits zum dritten Mal, unsere ersten zwei Gespräche fanden im Februar und März 2022 statt. Kurz zuvor kam die neue Platte von Tocotronic raus, die “Nie wieder Krieg” hieß. Im Kontext der damaligen Ereignisse in der Ukraine wirkte dieser Albumtitel leicht absurd. 

Ich kann mich kaum an unsere ersten Konversationen erinnern - worüber haben wir denn geredet? In jenen Tagen hatte ich ständig einen Kloß im Hals, war extrem angespannt und stand unter Dauerschock. Ich merke, dass ich diesmal viel besser folgen und meine Gedanken formulieren kann. Das könnte wahrscheinlich eine der Antworten auf die Frage sein, die mir zur Zeit oft gestellt wird - „Was hat sich in diesem Jahr für Sie verändert?” Der Schmerz, den wir spüren, ist noch da, aber es ist nicht mehr dieser Schockzustand, in dem ich mich, wie viele meiner Landsleute, in den ersten Wochen nach der Kriegseskalation befand. Und heute können wir über diesen Schmerz sprechen.    

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