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Die Hauptdarsteller:innen des Ukraine-Spezial der KIKA-Dokuserie „Berlin und Wir“.

© CHRISTOPH WEHRER

Ukrainisches Kriegstagebuch (Folge 111): Berlin, die Kids und der Krieg

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Am Ende des Konzerts der jUkrainians am Freitag fühlte ich mich glücklicher als nach den meisten Auftritten der letzten Monate. Es machte Spaß, das jüdisch-ukrainische Repertoire zu singen, das ich seit Jahren gesammelt habe. Das Publikum war euphorisch und tanzte vom ersten bis zum letzten Song fleißig und sang enthusiastisch mit. Der Abend wurde lang.

Als wir fertig waren, wollten noch einige Zuschauer*innen mit mir reden. Manche kannte ich, andere nicht, aber es waren schöne, herzliche Gespräche. Eine ukrainische Bekannte bedankte sich und meinte, sie habe seit einem Jahr nicht getanzt, konnte aber bei unserem Konzert der Versuchung nicht widerstehen. Ein israelischer Musikerkollege sagte, unser Konzert habe ihn mit Lebensenergie aufgeladen. Zu Hause bin ich erst nach Mitternacht angekommen, müde, aber zufrieden.

Als der Wecker mich am Samstagmorgen gnadenlos aus dem Schlaf riss, erinnerte ich mich, dass ich für den Vormittag einen frühen Interviewtermin zugesagt habe. Ab Anfang Februar häuften sich die Interviewanfragen. Die Gespräche sollten alle in der Woche um den Jahrestag des Angriffs von russland auf die Ukraine stattfinden. Mit frisch gebrühten Espresso setzte ich mich mit Kopfhörern und einem Mikro an meinen Rechner und versuchte mich zu konzentrieren.

„Was hat sich für Dich in diesem Jahr verändert?”, fragte mich die Journalistin. „Haben wir viel Zeit?“, erwiderte ich, denn meine Antwort wäre lang.

Yuriy Gurzhy schrieb den Titelsong für das Ukraine-Spezial der KIKA-Serie „Berlin und Wir“.

© CHRISTOPH WEHRER

Wie viele meiner Landsleute, habe ich die ganze Zeit versucht zu lernen, mit dem Wahnsinn umzugehen. Der Schock, den ich empfunden habe, als die ersten russischen Bomben vor einem Jahr auf meine Stadt fielen, als die Gebäude im Zentrum Charkiws, an denen ich über viele Jahre jeden Tag vorbeilief, plötzlich zu Ruinen wurden – diesen Schock spüre ich nicht mehr. Damals wollte ich nur schreien und heulen, und ich weiß, vielen anderen ging es genauso.

Aber inzwischen ist dieser brutale, blutige, zerstörerische Krieg – nein, nicht zur Normalität, jedoch zur Realität geworden, zu unserem Alltag. Ihn und seine zahlreichen Nebeneffekte bekommen wir zu spüren – wir Ukrainer, wir Deutschen, wir alle. Die Erwachsenen sowie die Kinder.

Letztes Jahr wurde ich eingeladen, ein Lied für die Doku-Fernsehserie „Berlin und wir“ zu schreiben. Ich kann mich gut an das Telefonat mit der Regisseurin Heike Raab erinnern. Ich war in Erfurt und überlegte gerade, wie ich das Projekt „Alte Steine, neue Töne“, an dem ich damals arbeitete, umstrukturieren könnte, falls mein Kollege Lesik Omodada aus der Ukraine nicht ausreisen dürfte.

Heike erklärte, dass es in ihrer Serie um ukrainische Teenager gehe, die nach dem Beginn der Großen Invasion im Februar in Berlin gelandet waren. Obwohl ich am Anfang eher skeptisch war, glaubte ich, dass es doch eine gute Idee sei, je länger ich ihr zuhörte. Diese Kids sind nun da, und es wäre wichtig, etwas von ihrem Leben am neuen Ort im Fernsehen zu zeigen. Man sollte mitbekommen, wie es ihnen geht, mit welchen Herausforderungen sie hier zu tun haben.

Gestern feierte das Ukraine-Spezial von „Berlin und wir“ Premiere. Ich habe mir alle sechs Folgen angeschaut. Hätte ich die Teilnehmer*innen nicht persönlich kennengelernt, würde ich wahrscheinlich beim ersten Blick nicht unterscheiden können, wer von ihnen woher kommt. Dasha und Ros aus Kiew sind jung, sie lächeln viel, sprechen Deutsch und Englisch, aber auch Ukrainisch. Sie hängen mit den Berliner*innen Anton und Diana ab, besuchen einander zu Hause und üben die Moves für den Flashmob. Am Ende sollen sie alle zusammen am Brandenburger Tor zu meinem Song tanzen.

Aber es gibt diese Momente – zum Beispiel, wenn Ros erzählt, wie er sich mit seiner Mutter während der Beschüsse im Keller verstecken musste, oder wenn Dasha ihre Trainingshose zeigt und dazu sagt, sie trug sie auf dem Weg nach Deutschland. Sie und ihre Familie konnten keine anderen Klamotten mitnehmen, da der Zug so voll war – da bleibt mir ein Kloß im Hals stecken.

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