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Feuerwehrleute des staatlichen ukrainischen Katastrophenschutzes inspizieren ein beschädigtes Haus nach einem russischen Raketeneinschlag.

© dpa/Andriy Andriyenko

Ukrainisches Kriegstagebuch (115): Wenn sich Hilde die Invasion schönredet

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

„Wir kennen uns, oder zumindest kenne ich Dich”, hat mir meine neue Facebook-Freundin Hilde geschrieben. Ihr Name kommt mir unbekannt vor, ich schaue mir ihr Profilfoto an, kann mich aber leider nicht an sie erinnern. „Vielleicht wirst Du Dich an mich nicht erinnern, wir haben zusammen im Kaffee Burger in der Torstraße getrunken, ich war oft da, als Kaminer und Du aufgelegt haben.“

Ach so, es muss aber dann über zehn Jahre her sein. Ich trinke schon lange nicht mehr und aus dem Kaffee Burger waren Wladimir Kaminer und ich 2013 raus. „Im Moment stelle ich das Programm für ein kleines, aber feines unkommerzielles Festival in Bayern zusammen und wollte fragen, ob Ihr Euch mit RotFront vielleicht vorstellen könnt, bei uns zu spielen“.

Sie nennt eine Gage, die für meine neunköpfige Band vielleicht fürs Benzin sowie für einen Snack an der Tankstelle reichen würde. Ich danke und sage höflich ab, dann fragt sie, ob es die Russendisko noch gibt. „Nein“, erwidere ich, „ich lege seit Jahren gar keine russische Musik mehr auf und hoffe, ich muss nicht erklären, warum.“

Aus Hildes langer Antwort kann ich entnehmen, dass man Kultur und Politik auseinanderhalten sollte. Was würden dazu wohl die ukrainischen Autor*innen, Musiker*innen und Künstler*innen sagen, überlege ich? Die, die aus ihren Städten fliehen mussten – und ihre Kolleg*innen, die dort geblieben sind, wo es nach wie vor laut ist?

Für die russische Band Kino läuft es gut derzeit

Was würden diejenigen meinen, die zur Zeit an der Front kämpfen, weil sie ihre Heimat verteidigen müssen?

Ich bin mir aber sicher, viele Kulturschaffende in russland würden Hilde zustimmen. Neulich bin ich aus Versehen auf der Website der legendären russischen Band Kino gelandet, die bereits vor 35 Jahren in einem ihrer bekanntesten Songs klar und deutlich nach Veränderungen verlangt hat. Auch wenn der Text eher allgemein war, wurde der Song zu einer inoffiziellen Perestroika-Hymne. In manchen Ecken des postsowjetischen Raums hat er nichts an Aktualität verloren – bei den Protesten in Belarus im Jahr 2020 zum Beispiel wurden zwei DJs verhaftet, die Kinos „Veränderungen, wir warten auf Veränderungen“ auflegten.

Viktor Tsoy, der Sänger von Kino, ist seit 40 Jahren tot, doch auf der großen Tour seiner Band ist er auch 2023 dabei: Tsoys Gesang wird aus dem Rechner abgespielt, seine Projektion schwebt über den Musikern auf der großen Leinwand.

Ich scrolle die Seite runter, auf der Suche nach einer – vielleicht auch indirekten – Reaktion auf die Ereignisse im Nachbarland. Gefährlich nah an die Politik kam Kino Mitte Februar letzten Jahres, als sie ihr Konzert in Kiew verlegen musste – aus Gründen, die nichts mit der Band zu tun haben. Die Musiker bedauerten diese Entscheidung und hofften, ihr ukrainisches Publikum im Juni zu sehen. „Um endlich Eure Lieblingslieder für Euch zu spielen. Passt auf Euch auf“, so endete ihr Post. Das war’s.

Das Konzert im Juni wurde natürlich abgesagt, ansonsten läuft’s bei der Band gut. Die Herren sind viel unterwegs, die letzte Online-Nachricht erschien Mitte der Woche, am Tag, an dem russische Raketen ein Wohnhaus in Saporischschja zerstört haben (acht Verletzte, 13 Tote, unter ihnen ein Kind). Kinder seien zu ihren Konzerten willkommen, falls ihre Eltern Bedenken haben sollten, versichern die Musiker von Kino (Fotos von lächelnden Kids im Publikum sind beigefügt). Ob die Band auf dieser Tour ihre alten Songs singt, wo das in russland gerade verbotene Wort „Krieg“ vorkommt?

Hilde behauptet, es wäre falsch, Menschen nach Nationalität zu teilen. Sie fühlt sich zum Beispiel gar nicht so Deutsch, obwohl sie deutsche Eltern hat, einen deutschen Pass besitzt und hier lebt. Es ist nicht so, dass auf einer Seite „russen“ und auf der anderen „Ukrainer“ kämpfen würden, glaubt sie. Und was ist das überhaupt, Heimat?

Ich bin mir sicher, dass viele meiner Landsleute – ethnische Ukrainer, aber auch Juden, Russen, Armenier, Krimtataren – eine klare Antwort darauf hätten, bloß im Moment haben sie andere Sorgen – russische Raketen fliegen in ihre Richtung, ohne nach ihrer Nationalität zu fragen.

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