zum Hauptinhalt
Der Bart muss ab. Regisseurin Gitti Grüter als sie selbst in „Sick Girls“,  ihrem Film über Frauen mit ADHS.

© Dok Leipzig 2023/Sick Girls/Kurhaus Production

Starke Dokumentarfilme beim Festival Dok Leipzig 2023: Wer Bilder schafft, hat Macht

Nicht nur beobachten, sondern politisch Position beziehen. Auch im Dokumentarfilm wird die aktivistische Attitüde stärker. Dok Leipzig spiegelt den Zustand der Welt. In 225 Filmen aus 60 Ländern.

Gelächter und Debatten auf einem Dorfplatz in Togo. Junge Männer in Jeans und T-Shirt staunen, wie ihre Ahnen aussahen. Genauer die Männer, die für die Kolonialherren in Deutsch-Togoland 1913 an diesem Ort eine Großfunkanlage erbauten und dabei nichts als Minilendenschurze trugen, wie es die Filme des „Afrikaforschers“ Hans Schomburgk zeigen, die der Dokumentarfilmer Jürgen Ellinghaus in „Togoland Projektionen“ erstmals an ihren Ursprungsort zurückbringt. Und sie dort im Mobilen Kino den Leuten zeigt.

„Sag‘ Soundundso, er soll seinen Arbeitern auch Stringtangas anziehen“, feixt ein Zuschauer. „Sklavenarbeit, Ausbeutung!“, rufen einige. Und einer meint gar: „Die sehen aus wie Affen.“ Das wiederum macht den Nebenmann sauer. „Sag‘ sowas nicht, das beleidigt unsere Vorfahren. Es ist der Blick der Weißen. Die wollten, dass wir so gesehen werden.“ Und dass wir uns dann hundert Jahre später selber so sehen, möchte man beim Betrachten von „Togoland Projektionen“ hinzufügen.

Wer die Bilder schafft, hat die Macht oder zumindest die Deutungshoheit. Mit dem „kolonialen Blick“ und seinen bis heute reproduzierten rassistischen Stereotypen, setzen sich beim Festival für Dokumentar- und Animationsfilme Dok Leipzig noch weitere Filme auseinander. „Die Ausstattung der Welt“ von Susanne Weirich und Robert Bramkamp ist so originell wie unterhaltsam geraten. Die schwarze Schauspielerin und Aktivistin Thelma Buabeng streift darin als fiktive Doktorandin für Postcolonial Studies durch den Requisitenfundus von Studio Babelsberg.

Sich die Macht über die Bilder nehmen, um politische Veränderung zu bewirken, oder deren Notwendigkeit einzuklagen. Diese aktivistische Attitüde ist unter den Filmemacher:innen der 66. Ausgabe des wichtigsten Dokumentarfilmfestivals Deutschlands stärker geworden. Ukraine-Krieg, Klimakrise und Umweltkatastrophen, Migrantenleid und Pandemie – die globalen Brandherde, deren Bilder das Internet permanent umwälzt, befeuern auch die Dringlichkeit des Filmemachens. Die Moral legt zu, die Distanz zu den Sujets verringert sich. Politische Polarisierung spiegelt sich auch im Dokumentarfilm.

Das ist unser Feld. Madegassische Kinder in „Where Zebus speak French“, in dem Nantenaina Lova von Landraub erzählt.

© Dok Leipzig 2023/Where Zebus speak French/Nantenaina Lova

Bei Dok Leipzig, das sich seit jeher der Weltverbesserung verschrieben und als Plattform für die Stimmen der Ungehörten verstanden hat, rennen sie damit offene Türen ein. Das zeigen, was ist. Das zeigen, was war. So ist es Brauch im Dokumentarfilm. Und jetzt noch: das zeigen, was besser werden muss. In Bildern und Tönen, in denen der gute Zweck mitunter die Mittel heiligt.

Etwa wenn in „Nowhere Near“, zu sehen im Internationalen Wettbewerb, der illegal in den USA aufgewachsene Regisseur Miko Revereza, eine familiäre Spurensuche auf den Philippinen mit der spanischen Kolonialgeschichte verknüpft. In verwackelten Dunkelbildern und einem oft miesen Ton, der vom Kameramikro stammt.

Wien steht still in der Pandemie

Gegen diese gut gemeinte, aber schlecht gemachte Subjektive nimmt sich das durch die Jahreszeiten rhythmisierte, konzentrierte Porträt einer 91-jährigen Französin, die in „Suzanne from Day to Day“ komfortlos und stillvergnügt auf einem einsamen Gehöft in den Vogesen lebt, geradezu als Klassiker würdevollen, distanziert-sympathisierenden Menschenfilmens aus.

Die Wahrheit der Verlangsamung suchen auch die kühlen Totalen, in denen der Österreicher Nikolaus Geyrhalter, der bekannteste Name im Hauptwettbewerb, in „Stillstand“ ein Pandemie-Wien dokumentiert, das erst gespenstisch leergefegt ist und später von der Wut der Coronaleugner erfüllt.

In Armenien angefeindet. „Beauty and the Lawyer“ erzählt von der Liebe zwischen Anwältin Hasmik und Dragqueen Garik, die eine Familie gründen.

© Dok Leipzig 2023/Beauty and the Lawyer/Hovhannes Ishkhanyan

Dass Dokumentarfilme künstlerische Konstruktionen sind, trägt Dok Leipzig, das sich unter der Leitung von Christoph Terhechte in diesem Jahr auf vier Wettbewerbe konzentriert und endlich eine Goldene Taube für lange Animationsfilme eingeführt hat, 2023 auch im Plakatmotiv. Dort prangt eine Schere. Schnipp-schnapp, weg ist das Bild.

Sicher ist auch gestaltete Filmrealität der Wahrheitsfindung dienlich. Etwa in den erschütternden Aufarbeitungsfilmen „Die Kinder aus Korntal“ und „Kumva – Which Comes from Silence“, die sich mit der Aufklärung von Missbrauchsverbrechen in einem deutschen evangelischen Kinderheim in den 1960er und 1970er Jahren und dem Genozid in Ruanda 1994 widmen.

Der Publikumsliebling „Sick Girls“

Interviews mit Zeitzeugen, Archivmaterial, Reenactment, szenische Fiktionen, Animationen – das ist das fixe, in alle Richtungen erweiterbare Instrumentarium des künstlerischen Dokumentarfilms. Trotzdem gibt es alle paar Jahre Skandale um inszenierte Passagen und gecastete Betroffene, wie zuletzt 2021 bei der NDR-Produktion „Lovemobil“.

Der Begriff „Dokumentation“ impliziert Authentizität, selbst in einer Welt der KI-Memes und Deep Fakes. Dass diese zugunsten der Empathie mit einer kraftvollen Selbstermächtigungsgeschichte in Gitti Grüters „Sick Girls“ zusehends flöten geht, schadet dem diesjährigen Publikumsliebling dennoch nicht.

„While the Green Grass grows“ von Peter Mettler gewinnt die Goldene Taube für langen Dokumentarfilm.

© Dok Leipzig 2023/While the Green Grass grows/Peter Mettler

„Sick Girls“ erzählt von erwachsenen Frauen mit ADHS, zu denen auch die Filmmacherin gehört, die sich aber im Laufe der Konsultationen mit dem Psychiater und Treffen mit der mutmaßlichen Selbsthilfegruppe auffallend eloquenter Betroffener in eine Kunstfigur ihrer selbst verwandelt. Die kreuzsympathische Grüters zeichnet die Frauen nicht als psychisch Kranke, sondern als Nonkonformistinnen, die trotz Tabletten und gesellschaftlicher Reibungen ihren Frieden mit der Aufmerksamkeitsdefizitstörung gemacht haben.

Das ist als Empowerment-Geschichte in Ordnung, Krankheit ist ein traditioneller Topos. Er bekommt aber einen Beigeschmack, als Grüter später im Publikumsgespräch erzählt, dass sie per Aufruf betroffene Frauen gesucht habe, die vor der Kamera über ihre Erkrankung erzählen. Das Selbsthilfe-Setting ist also inszeniert, dadurch werden die Folgen von ADHS geschönt.

Empathie mit der Ukraine

Mitten drin stehen im Leiden. Als Zuschauerin in einem Emotionsstrom verbunden sein mit den Opfern oder Helfern humanitärer Katastrophen. Solche Wirkungen zu erzeugen, ist angesichts immersiver digitaler Sehgewohnheiten, auch jenseits der Unterhaltungsindustrie, ein Bemühen.

So funktioniert der 360°-Grad-Film „You destroy. We create“, der die Zerstörung von Kulturgütern in der Ukraine nach dem russischen Angriff nachempfinden lässt. „Dok Neuland“, die Extended-Reality-Sektion des Festivals, macht es mittels Virtual-Reality-Brille möglich, dass man sich in einer kriegszerstörten Kirche wiederfindet, während man sicher in Leipzig auf einem Hocker sitzt.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Mit anderen, aber in der unmittelbaren Wirkung verwandten Mitteln arbeitet der Festivaleröffnungsfilm „White Angel – Das Ende von Marinka“ von Arndt Gintzel, der bereits am 19. Oktober ins Kino kommt. Er erzählt von den Evakuierungseinsätzen ukrainischer Polizisten, die unter russischem Beschuss Menschen, Verwundete, Leichen aus einem Städtchen im Donezk bergen. Die Bilder liefern Go-Pro-Kameras auf den Polizistenhelmen, was dem Drama eine panische Ästhetik der Gefahr verleiht.

Migrantenrettung in Echtzeit

In „Einhundertvier“, einer in Echtzeit mit laufendem Timecode gedrehten Rettung afrikanischer Migranten im Mittelmeer, sind die Helmkameras ebenfalls im Einsatz. Die Wirkung ist dieselbe. Das Kinopublikum ist live dabei, wenn das deutsche Schiff „Eleonore“ die Afrikaner aus ihrem lecken Schlauchboot holt. Jonathan Schörnigs Seestück zeigt, dass Menschenretten neben Entschlossenheit und Mut auch eine kühle Logistik erfordert. Über das Schicksal der Geretteten, die nach sechs Tagen Herumdümpeln auf dem Rettungsboot endlich in Italien an Land gehen dürfen, erfährt man genauso wenig wie über die Helfer. „Einhundertvier“ würdigt allein die Tat.

Beim Anschauen der geballten Weltübel, die im Dokumentarfilm ihren angestammten Platz haben, weil gegen die Absurditäten, Schmerzen und Überlebenskräfte des wahren Lebens keine Fiktion ankommt, begeistert eins immer wieder: Wie viele sagenhaft couragierte Menschen es gibt!

So wie Ly, ein Reisbauer aus Madagaskar, der in Nantenaina Lovas niederschmetternd-großartigem Landraub-Drama „Where Zebus speak French“ den David gibt, der seinen Acker gegen einen Goliath aus Korruption und Kapitalismus verteidigt. Selbst noch, als ihm die Bagger des Bauprojekts, das seinen Orangenhain in eine Gated Community vor den Toren der Hauptstadt verwandeln will, bereits die Bäume umhauen. Verzweiflung? Die lässt Ly, ein Geschichtenerzähler mit strahlendem Lächeln, nicht gelten. Auch wenn der madegassische Filmemacher Lova beim Publikumsgespräch desillusioniert über das Gebaren der politischen Eliten spricht.

Und so wie Garik und Hasmik, ein Ehepaar aus Armenien. Er ist eine trans Person, die unter dem Namen Carabina als Dragqueen im homophoben Armenien zu skandalträchtiger Berühmtheit gekommen ist. Sie ist eine Menschenrechtsanwältin, die sich in beide verliebt hat, in Garik und Carabina. „Beauty and the Lawyer“ erzählt ihre Geschichte. Nach Leipzig sind sie mit ihren kleinen Söhnen gekommen. Noch so ein Bild der Hoffnung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false