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Unterwegs in New York: Hae Sung (Theo Yoo) und Nora (Greta Lee) treffen sich nach 24 Jahren zum ersten Mal wieder. 

© Twenty Years Rights LLC

Das bewegende Kinodrama „Past Lives“: Hymne auf das versäumte Leben

Eine Kinderliebe, nach 24 Jahren sehen sie sich wieder. Was, wenn Nora nicht mit ihrer Familie ausgewandert wäre? Celine Song erzählt in ihrem Regiedebüt von sich selbst - und man denkt wie selten im Kino über das eigene Leben nach.

Sie waren Schulkameraden in Seoul, eine Sandkastenliebe, unzertrennlich. 24 Jahre lang haben sie sich nicht gesehen.

Jetzt stehen sie einander in New York gegenüber, Treffpunkt Central Park: Nora (Greta Lee), die als Zwölfjährige mit ihrer Familie auswanderte, und Hae Sung (Teo Yoo), der in Südkorea geblieben ist. Staunend vermisst die Kamera den Abstand zwischen den beiden, zeigt die Nähe und Fremdheit der beiden, tastet den Raum ab, der sich auftut. Ein weiter, intimer Raum in Cinemascope. Wow, sagt Nora nur leise, gleich mehrfach, und umarmt Hae Sung, der nicht recht weiß, wohin mit sich. Es gibt kein Ritual, keine angemessene Geste für solch einen Augenblick.  

Das Leben in der Möglichkeitsform: Was, wenn sich ihre Wege nicht getrennt hätten, damals an der Treppe auf dem letzten gemeinsamen Nachhauseweg von der Schule, als Hae Sung nur lapidar „Bis dann“ zu ihr sagte? Was, wenn Noras Familie nicht ausgewandert wäre, sie nicht in Toronto aufgewachsen, nicht zum Studium an der Columbia University nach New York gegangen wäre und nicht bei einer Künstlerresidenz den Schriftsteller Arthur (John Magaro) kennengelernt hätte, ihren späteren Ehemann? Wären sie, Nora und Hae Sung, ein Paar geworden, wären sie glücklich miteinander?

„Past Lives“ erzählt vom nicht gelebten Leben, von den roads not taken in der eigenen Biografie. Das kennt jeder, ob mit Migrationsgeschichte oder nicht: den Zufall, der einen hierhin und dorthin verschlägt, den mit Bedacht verworfenen Weg, die verpasste Liebe. Auch deshalb ist „Past Lives“ der wohl bewegendste Film des Jahres.

Dass er nach einem zunächst unscheinbaren, zwischen den Jahrzehnten mäandernden Beginn eine bezwingende, ja magische Intensität entfaltet, liegt vor allem an Celine Song. Nicht zuletzt daran, dass die in New York lebende Dramatikerin mit koreanischen Wurzeln in ihrem Regiedebüt ihre eigene Geschichte erzählt und die Identitätsfrage auf so persönliche, migrantische wie universelle Weise stellt.

Im Film heißt Nora ursprünglich Na Young, im wirklichen Leben hieß Celine Ha Young, als sie ein Kind war. „Das Land zu wechseln, kann eine sehr dramatische Erfahrung sein“, erzählt die 34-Jährige im Videocall. „Man überquert den Pazifik, ändert den Namen, die Sprache, die Kultur, lässt geliebte Menschen zurück. Aber auch, wer nur umzieht oder den Arbeitsplatz wechselt, hat so etwas erlebt. Jedes neue Jahr in deinem Leben lässt du ein Stück von der Person zurück, die du im Jahr zuvor warst.“

Noch im Januar, vor der Weltpremiere von „Past Lives“ in Sundance und dem Publikumserfolg auf der Berlinale wenige Wochen später, sei sie ein anderer Mensch gewesen als heute. Und wer weiß, überlegt sie, vielleicht lässt sie nach dem großen Erfolg mit „Past Lives“ ihr bisheriges Leben als Dramatikerin und Serien-Autorin zurück. Auch wenn sie sich, als stolzes Mitglied der Writers Guild of America, gerade im Streik befindet.

Celine Song ist bester Laune. Am Vorabend hat sie beim Londoner Sommer-Sundance-Festival den Publikumspreis gewonnen, sie spricht schnell, zügig, temperamentvoll. Auch die Zielstrebigkeit hat sie mit ihrer Protagonistin Nora gemeinsam. Noch einmal rekapituliert sie den Ursprungsmoment ihres Kinodebüts, der Film beginnt mit eben dieser Szene. Eine Frau und zwei Männer nachts am Tresen einer Bar in Manhattan, aus dem Off machen sich andere Gäste Gedanken über das Trio. Wer sind die drei, ein Paar und ihr Ex? Oder sind die Asiatin und der Asiate Geschwister, sie wirken so vertraut? Ist Eifersucht im Spiel?  

Es war kein Wow-Erlebnis, erinnert sich Celine Song an diesen Barbesuch, als ihr Sweetheart aus der Kindheit New York besuchte und sie ihm ihren Mann vorstellte, den Drehbuchautor Justin Kuritzkes. Eher ein stilles Staunen: Wie kommt es, dass ausgerechnet wir drei jetzt hier sitzen?

Regisseurin Celine Song bei der Vorstellung ihres Regiedebüts auf der Berlinale 2023.
Regisseurin Celine Song bei der Vorstellung ihres Regiedebüts auf der Berlinale 2023.

© dpa/Monika Skolimowska

Also schrieb sie ein Drehbuch, kein Theaterstück wie ihr bekanntestes Off-Stück, „Endlings“ von 2019 über drei ältere koreanische Frauen: Wegen der Zeit- und Ortswechsel eignete sich der Stoff nicht für die Bühne. Und es wurde auch keine romantische Komödie über eine Frau, die sich zwischen zwei Männern entscheiden muss oder gar feststellt, dass sie den Falschen geheiratet hat. Sondern ein subtiles Drama darüber, dass es einfach nicht fair ist, nur ein Leben zu haben, wie Hauptdarstellerin Greta Lee es auf den Punkt brachte.

„Sie meint den Schmerz, der damit verbunden ist, dass wir eine lineare Existenz führen. Zeit und Raum sind brutal. Der Film handelt auch von dieser universellen Brutalität“, sagt die Regisseurin. Die bad guys in „Past Lives“ seien die Jahrzehnte, und die Entfernung zwischen den Kontinenten. „Sie bringen Nora und Hae Sung auseinander.“

Deshalb zeigt „Past Lives“ auch den Alterungsprozess. Zunächst die Kinder in Seoul, dann die erste Kontaktaufnahme nach zwölf Jahren, ein Zufallsfund über Facebook – so wie es zuletzt viele in der Corona-Pandemie gab. Im Lockdown fingen die Leute an, nach verschollenen Freunden, Ex-Lovern und Verwandten zu fahnden und sich nicht nur über das Covid-bedingt verpasste Leben Gedanken zu machen, sondern über andere Versäumnisse. Auch das schwingt mit, wenn man den Film nach dem Ende der Pandemie sieht.

Die beiden skypen eine Weile, bis die gerade nach New York gezogene, ehrgeizige Autorin und der zwischen Militärdienst und Auslandssemester in China noch bei seinen Eltern wohnende Hae Sung den Kontakt wieder abbrechen. Nora möchte sich ganz auf ihr Schreiben konzentrieren. Es vergehen wieder zwölf Jahre, bis der zurückhaltende Hae Sung, inzwischen Ingenieur, schließlich eine Urlaubsreise nach New York unternimmt und sich wieder bei Nora meldet.

„Wie sieht Liebe aus?“, fragt Celine Song. „Nicht unbedingt kompliziert, sie braucht keine extremen Close-ups oder schräge Kamerawinkel. Manchmal sind es nur zwei Menschen, die einander anschauen.“ Deshalb hat sie mit ihrem Kameramann Shabier Kirchner nach einer einfachen, beiläufigen, auch meditativen Bildsprache gesucht.

Nora (Seung Ah Moon) und Hae Sung (Seung Min Yim) waren als Kinder in Seoul beste Freunde.
Nora (Seung Ah Moon) und Hae Sung (Seung Min Yim) waren als Kinder in Seoul beste Freunde.

© Jin Young Kim/Twenty Years Rights/A24 Films

Ein Vorhang, der am offenen Fenster weht, Sinnbild für die flüchtig verstreichende Zeit, für ihre nur vermeintliche Banalität. Oder New York im Regen, obwohl es Sommer ist. Die beiden gehen spazieren, fahren mit der Circle Line, schauen im Brooklyn Bridge Park über den East River. Ein romantischer Ort, ein Paar, das ein Liebespaar sein könnte, aber eben keines ist, umgeben von lauter Liebespaaren – „Past Lives“ lebt auch von einem feinen Humor.

Und von den präzisen, hellsichtigen Dialogen. Etwa wenn Nora Arthur das koreanische Konzept des in-yeon erklärt, demzufolge Menschen, die zueinander passen, in ihren früheren wie späteren Leben zahlreiche Verbindungen zueinander haben. Schicksalsstränge, die sich in tausenden Schichten überlagern.

Oder wenn Nora klarstellt, dass sie vielleicht wegen der Green Card geheiratet haben, aber dass dies nun ihre gemeinsame Existenz ist. Die ausgewanderte Koreanerin Nora und der weiße Jude Arthur, ein Schriftsteller-Paar in einer kleinen Wohnung im East Village, es ist gut und richtig so, diese Leben, diese Identität. Nur dass er sich manchmal ausgeschlossen fühlt, wenn sie im Traum Koreanisch spricht.

Jedes neue Jahr in deinem Leben lässt du ein Stück von der Person zurück, die du im Jahr zuvor warst.

Celine Song, Regisseurin und Drehbuchautorin

Als Kind fand Nora das Auswandern okay, weil sie den Nobelpreis gewinnen wollte. Beim Skypen mit 24 nennt sie den Pulitzer-Preis als ihr Ziel, mit 36 ist es der Tony Award. Noch so ein trefflicher Satz: Hae Sung fasst zusammen, warum er und Nora nicht zusammengekommen sind. „Du bist, wie du bist, jemand, der immer wieder geht. Und ich mag dich genauso.“ Er sagt auch, dass es weh tut, Arthur zu mögen. Die beiden Männer verstehen sich gut, trotz der Sprachbarriere. Schön, sie in der jeweils anderen Sprache radebrechen zu sehen.

„Past Lives“ hat etwas Tröstliches. „Wir Erwachsenen sind heutzutage hauptsächlich damit beschäftigt, unsere Karriere zu verfolgen oder der aktuellen Beziehung nachzugehen. Wir nehmen uns nicht die Zeit, um die Anteile unseres Selbst und den Menschen auf Wiedersehen zu sagen, die wir zurücklassen“, sagt Celine Song.

Sie versteht ihren Film auch als Trauerarbeit, als Angebot, seinen Frieden zu machen mit der Brutalität des linearen Lebensverlaufs. „Wer ‚Past Lives‘ sieht, nimmt sich vielleicht hundert Minuten Zeit für all die versäumten Abschiede. Es muss nichts Dramatisches sein, vielleicht sind es nur kleine, aber kostbare Facetten unserer Persönlichkeit, die wir verloren haben.“ Wer hat nicht viele solcher Abschiede aus dem Gedächtnis verdrängt; Songs Film wirkt lange nach.

Die komplizierteste Szene? Eben dieser bewusste Moment des Abschieds von Nora und Hae Sung. Er muss zum Flughafen, Nora begleitet ihn zu seinem Uber-Wagen, eine Plansequenz. Es ist schon dunkel draußen. „Wir legten 50 Meter Kameraschienen und drehten an einem Freitagabend im East Village. Alle machen dann Party, sind betrunken, es herrscht ein Riesentrubel auf den Straßen. Neben und hinter der Kamera war Tohuwabohu und wir wollten diesen stillen, intensiven Moment einfangen, der sich gleichzeitig viel zu lang und viel zu kurz anfühlen musste. Du hältst es nicht aus, aber als das Auto dann kommt, denkst du, oh nein, bitte gib ihnen noch zehn Sekunden“. Sekunden, die eine Ewigkeit dauern.   

Noch einmal der Schmerz, die ungelinderte Wehmut. Nora sagt Adieu zu dem Kind, das sie einmal war. Die Fenster hinter ihr sind hell erleuchtet, von Menschen, die sich in ihrer Existenz eingerichtet haben. Auch das Leben der anderen ist von Trauer gesäumt.

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