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Ein Armeeoffizier schließt das Tor eines Auffanglagers für Migranten auf Lampedusa, während Migranten im Inneren sitzen.

© dpa/AP/La Presse/Cecilia Fabiano

Migrationsexperte zum neuen EU-Asylrecht: „Europa setzt ein bedenkliches Zeichen der Abschottung“

Constantin Hruschka ist einer der besten Kenner von Europas Migrationspolitik. Der Jurist hält das neue Asylpaket für praktisch kaum durchführbar.

Herr Hruschka, es ist nicht die erste Reform des gemeinsamen Europäischen Asyl- und Migrationssystems (Geas), und auch zuvor schon wurde jede als der große Wurf beworben. Stimmt es diesmal? 
Aus meiner Sicht ist die Reform quasi alter Wein in alten Schläuchen. Keine der Ideen ist neu. Das einzige Neue ist, dass die Konzepte miteinander verbunden werden. Gemeinsam ist dem ganzen Paket vor allem, dass unter Wahrung des Rechts auf Asyl versucht wird, eine möglichst große Abschreckungswirkung zu erzielen.

Aber das Recht auf Asyl sehen Sie gewahrt?
In der Tat hebt sich die Reform da wohltuend von vielen Diskussionen in den Mitgliedstaaten ab. Angesichts des konzertierten Angriffs zum Beispiel der deutschen Unionsparteien auf das grundgesetzlich garantierte Asylrecht ist das keine Selbstverständlichkeit. Die wesentlichen Parameter dafür, dass Schutz gewährt wird, bleiben unverändert. Das ist für den Anspruch auf Asyl, der sich auch aus Artikel 18 der Grundrechtecharta der Europäischen Union ergibt, eine gute Nachricht.

Was ist mit der Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU, die von Menschenrechtsorganisationen massiv kritisiert wird? 
Dies einschließlich der sogenannten Grenzverfahren ist eine sehr alte Idee. Sie wird in der EU seit 2003/2004 immer wieder diskutiert – damals kamen Vorschläge vom britischen Ex-Premier Tony Blair und dem früheren deutschen Innenminister Otto Schily.

Die Auslagerung in Drittstaaten funktioniert bis heute nicht, weil es dazu die Bereitschaft anderer Staaten braucht mitzumachen. Das ist heute schon beim Dublin-Verfahren innerhalb der EU nicht der Fall. Mir ist unklar, warum das mit Nicht-EU-Staaten besser funktionieren sollte. Ich sehe aber auch praktische, rechtliche Probleme.

Welche?
Die für diese neue Verteilung und die Vorverfahren ausgearbeiteten Regelungen sind überkompliziert und nach den bisher bekannten Texten handwerklich unsauber und teilweise widersprüchlich.

Es wird sehr viele juristische Kämpfe um die neuen Regelungen geben, und es ist für die Auslagerung ein Vorverfahren notwendig, welches – das wissen wir schon aus dem Dublin-Bereich und dem Bereich der jetzigen Drittstaaten-Verfahren – oft mindestens so lange dauert und einen gleichen Aufwand bedeutet wie ein normales Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung.

Die EU-Kommission, angeführt von Ursula von der Leyen, muss für eine einheitliche Anwendung des Asylpakets in allen EU-Staaten sorgen.

© dpa/Geert Vanden Wijngaert

Mit der Komplexität der rechtlichen Regelungen steigt das Risiko, dass sie kaum beachtet und umgesetzt werden. Schon dass gestern neun Rechtsakte mit über 1300 Textseiten auf einmal beschlossen wurden, ist ein Warnzeichen. Die Abläufe sind aus meiner Sicht unklar. Die EU-Kommission müsste hier also ihre Rolle als Hüterin der Verträge sehr proaktiv ausüben: Sie müsste die Staaten beraten, wie sie die Regeln umsetzen, und Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn sie das nicht tun.

Nur so ließe sich eine Einheitlichkeit der Rechtsanwendung erreichen. Das ist bereits jetzt die Aufgabe der Kommission. Die hat sie aber bisher nur in Ausnahmefällen wahrgenommen. 

75
Prozent aller Flüchtlinge weltweit kommen in viel ärmeren Ländern an und nicht in den westlichen Industrieländern.

Sind Brüssel da nicht sowieso die Hände gebunden? Das große und national brandgefährliche Streitthema Migration wird letzten Endes immer im Kreis der nationalen Regierungen verhandelt.
Dass das auch anders geht, hat sich bei der Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten gezeigt. Da hat die EU-Kommission eine aktive Rolle gespielt. Aber es wäre für den asylrechtlichen Schutz insgesamt wünschenswert, wenn die Kommission zusammen mit der EU-Asylagentur und der Grundrechteagentur FRA hier eine wichtigere Rolle übernähme. Das ist bisher kaum erkennbar.

Was würde das ändern?
Dass die Kommission hier ihrer Verantwortung nicht gerecht wird, führt dazu, dass die Mitgliedstaaten Standards oft nicht einhalten und bewusst umgehen. Einige dieser Rechtsverletzungen werden durch die jetzige Reform nun sogar legalisiert, zum Beispiel was die Standards angeht, die in der Versorgung und in den Asylverfahren zu gelten haben, oder die Möglichkeiten, Geflüchteten ihre Bewegungsfreiheit zu nehmen, bis hin zur Inhaftierung zur Durchführung von Asylverfahren.  

Als Forscher, aber auch als juristischer Praktiker kennen Sie die Wirklichkeit des europäischen Asylsystems besonders gut. Was wird die Reform im Alltag der Aufnahme verändern?
Asylverfahren werden – durch die vielen Zulässigkeitsregelungen und Ausnahmevorschriften, in normalen Fällen wie auch in sogenannten Krisensituationen wie 2015 – deutlich länger dauern. Das heißt, effizienter wird das System nicht. Das kann es auch deshalb nicht, weil das aktuelle Paket auf Abwehr setzt.

Die Dauer der Verfahren soll Menschen abschrecken. Die richtige Lösung wäre aus meiner Sicht das Gegenteil, nämlich eine zeitnahe inhaltliche Prüfung jedes Asylantrags. Die Schweiz macht es vor: Sie schafft schnelle Verfahren, indem sie die Ressourcen am Beginn des Verfahrens konzentriert. Das ist sehr viel effizienter und vor allem kostengünstiger als das, was die EU gerade plant.

Das könnte bedeuten, dass „nach der Reform“ wie in den vergangenen Jahren schon „vor der Reform“ heißt?
Sogar Australien, das fast 20 Jahre lang auf Auslagerung von Asylverfahren im Rahmen der „pacific solution“ gesetzt hat, hat das inzwischen als Irrweg erkannt. Nachdem man lange geglaubt hatte, Schutzsuchende auf Inseln in der Umgebung kasernieren zu können, will man dort jetzt zur inhaltlichen Prüfung von Asylverfahren zurück.

Ein Vorbild für Europa?
Ich denke, die EU wird das irgendwann auch tun müssen. Nicht zuletzt übrigens, weil die Reform ein bedenkliches Zeichen der Abschottung in die Welt setzt: Europa sagt zwischen den Zeilen damit, dass es nicht bereit ist, seinen Beitrag zum weltweiten Flüchtlingsschutz zu leisten. Dabei kommen weiterhin mehr als 75 Prozent aller Flüchtlinge weltweit in viel ärmeren Ländern an, nicht in den westlichen Industrieländern. Wie will man diese Länder noch überzeugen, ihren Pflichten nachzukommen?

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