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Abgefangene Geflüchtete am Hafen von Sfax in Tunesien.

© Action Press/Zuma Wire/Imageslive/Hasan Mrad

Kritik an EU-Flüchtlingsdeal mit Tunesien: „Irreparabler Schaden für den Ruf der EU“

Die EU bietet dem tunesischen Präsidenten Saied viel Geld – und hofft auf mehr Grenzschutz. Menschenrechtler kritisieren, dass Saied als Torwächter benutzt wird, um Europa abzuschirmen. Nimmt Saied das Angebot an?  

Bürgerrechtler in Tunesien fühlen sich von Europa im Stich gelassen. Die EU bietet dem autokratischen Präsidenten Kais Saied ein wirtschaftliches Hilfspaket von fast einer Milliarde Euro an und erwartet als Gegenleistung, dass Tunesien tausende Flüchtlinge aufhält, die mit Booten über das Meer nach Italien wollen.

Offenbar wolle die EU „ihre Flüchtlingsprobleme nach Tunesien exportieren“, sagte die tunesische Menschenrechtlerin Émna Mizouni dem Tagesspiegel. Die Demokratie bleibe dabei auf der Strecke. Offen ist, ob Saied das europäische Angebot annehmen wird.

Saied hat in den vergangenen zwei Jahren die Macht in Tunesien an sich gerissen.

EU-Gelder für mehr Grenzschutz in Tunesien

Er lässt Oppositionspolitiker verfolgen und beschimpft Schwarzafrikaner in Tunesien mit rassistischen Parolen. In dem nordafrikanischen Land mit seinen zwölf Millionen Einwohnern leben tausende Flüchtlinge, die auf die Überfahrt nach Europa hoffen.

Die EU äußert nur sanfte Kritik an Saied: Brüssel will den Präsidenten nicht verärgern, denn etwa jeder zweite Flüchtling, der per Boot in Italien ankommt, ist in Tunesien losgefahren. Seit Jahresbeginn zählten die UN rund 54.000 Bootsflüchtlinge in Italien, mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum vergangenes Jahres.

Die Männer, Frauen und Kinder stammen nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR vor allem aus der Elfenbeinküste, Guinea, Ägypten und Pakistan. Nach den neuen EU-Asylregeln sollen Italien und andere europäischen Staaten neu angekommene Flüchtlinge in Länder wie Tunesien zurückschicken können.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug bei einem Treffen mit Saied in Tunis vor wenigen Tagen ein „Partnerschaftsprogramm“ vor, das 100 Millionen Euro für den Ausbau des Grenzschutzes vorsieht.

Tunesien braucht dringend Geld, dem Land droht der Staatsbankrott. Saied lehnt bisher aber die Bedingungen ab, die der Internationale Währungsfonds (IWF) an ein Hilfsprogramm für das nordafrikanische Land knüpft.

Die EU bietet Saied nun 900 Millionen Euro, wenn er seinen Widerstand gegen den IWF aufgibt. Europa befürchtet, dass ein Wirtschaftskollaps in Tunesien noch mehr Menschen über das Mittelmeer nach Italien treiben würde.

Offenbar will die EU ihre Flüchtlingsprobleme nach Tunesien exportieren.

Émna Mizouni, tunesische Menschenrechtlerin

Wie beim Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aus dem Jahr 2016 will die EU nun Tunesien, einen weiteren Staat am Rand Europas, zum Torwächter in der Flüchtlingspolitik machen. Die tunesische Bürgerrechtlerin Mizouni sagte über das europäische Angebot an Saied, der angestrebte Deal markiere den „Beginn einer neuen Ära“, in der sich Europa vom demokratischen Prozess in Tunesien verabschiede.

Die niederländische Grünen-Europapolitikerin Tineke Strik kritisierte, die EU wolle mit „Diktator Saied“ zusammenarbeiten. Beim Besuch von der Leyens in Tunesien seien Themen wie Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie nicht einmal erwähnt worden.

100
Millionen Euro will die EU in den Grenzausbau in Tunesien investieren.

Auch in der Türkei werfen Regierungskritiker den Europäern vor, die Augen vor demokratischen Missständen zu verschließen, um das Flüchtlingsabkommen nicht zu gefährden.

Tunesien als Europas „Grenzschutztruppe“

Bei dieser europäischen Flüchtlingspolitik würden Schutzsuchende „letztendlich zur Verhandlungsmasse“, sagt die Nordafrika-Expertin Nebahat Tanriverdi. Europa verlege sich vor allem auf Abschottung, sagte Tanriverdi dem Tagesspiegel.

Damit verändere sich die Peripherie Europas und besonders Tunesien – und zwar „in einer Art und Weise, die europäischen Idealen widerspricht“. Langfristig führe diese Politik zu einem „irreparablen Schaden“ für den internationalen Ruf Europas, meint Tanriverdi.

Obwohl die EU viel Geld und politisches Kapital in die angestrebte Vereinbarung mit Präsident Saied steckt, ist der Ausgang ungewiss. Der Staatschef sagte am Tag vor seinem Treffen mit von der Leyen, er werde nicht zulassen, dass die Flüchtlingsfrage zulasten Tunesiens gelöst werde: Tunesien sei keine „Grenzschutztruppe“ für andere Länder.

Bei seinem Gespräch mit der EU-Delegation bekräftigte Saied diese Position, wie das tunesische Präsidialamt mitteilte. Ein Handel „Flüchtlinge gegen Geld“ sei weder humanitär vertretbar noch akzeptabel, sagte Saied demnach.

Noch ist offen, ob Saied das Milliarden-Angebot der EU annimmt. Auch seine Entscheidung über das IWF-Hilfspaket steht noch aus. Der Präsident lehnt Forderung des Fonds nach einer Kürzung von Subventionen und einer Privatisierung von Staatsbetrieben ab.

Die Nachrichtenagentur Reuters meldete, Saieds Regierung arbeite an einem neuen Vorschlag an den IWF. Neue Verhandlungen zwischen Tunesien und dem IWF würden voraussichtlich Monate dauern.

Während Saied mit einer Antwort an die EU und den IWF zögert, sucht er nach anderen Geldquellen. Bei einem Besuch in Ägypten bat Saied seinen Gastgeber, Präsident Abdel Fattah al Sisi, sich bei den reichen Golf-Staaten für Tunesien einzusetzen.

Bei der Weltbank konnte Saied schon einen Erfolg erzielen: Die Bank erklärte jetzt, sie werde Tunesien mit 500 Millionen Dollar unterstützen.

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