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Bilder der Geiseln bei einer Solidaritätsdemonstration.

© imago/UPI Photo/IMAGO/DEBBIE HILL

Die brutale Kriegslogik : Die Hamas wird die Waffenruhe zur Vorbereitung für die nächste Attacke nutzen

Das lange Ringen um den diplomatischen Teilerfolg offenbart eine moralische Zwickmühle: Viele Leben werden jetzt gerettet – um den Preis, dass die Todesgefahr für andere steigt.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

| Update:

Nun ist die Erleichterung groß. Die Vereinbarung über eine mehrtägige Waffenruhe, die Freilassung von zunächst 50 Frauen und Kinder aus Hamas-Geiselhaft sowie 150 palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen ist ein Sieg der Humanität. Und ein Erfolg der Diplomatie.

Die Familien der Freigelassenen können ihre Angehörigen wieder in die Arme schließen. Verwandte und Freunde der verbleibenden Geiseln und Gefangenen dürfen wieder hoffen. Hunderttausende in Gaza werden mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten, Energie versorgt, wenn auch nur notdürftig.

Da wächst die Zuversicht, dass sich der mörderische Kreislauf der Gewalt und Gegengewalt durchbrechen lässt. Und ebenso der Druck, dieses erste Abkommen zu erweitern und zu verlängern.

Fünf Stunden Streit in Israels Regierung

Doch es hat seinen Grund, warum das Ringen um die Übereinkunft so lange gedauert hat. Warum es Rückschläge bei den Verhandlungen gab. Und warum die Regierung Netanjahu fünf Stunden lang gestritten hat, ob es die Vereinbarung annehmen soll.

Sie stand vor der Abwägung, ob sie jetzt eine gewisse Anzahl von Menschenleben rettet – im Wissen, dass sie damit andere Menschen schon bald in tödliche Gefahr bringt und eine ungewisse Anzahl sterben wird. Ihr wurde eine Entscheidung abverlangt, die Menschen unter moralischen Gesichtspunkten kaum treffen können und mit der sie sich so oder so schuldig machen. Worte wie „Dilemma“ oder „Zwickmühle“ können diesen moralischen Zwiespalt nicht annähernd ausdrücken.

Der Sieg der Diplomatie und der Humanität, den man in dem Abkommen sehen darf, ist eng begrenzt. Das gilt auch für den Fall, dass die Waffenruhe verlängert wird, um die Freilassung weiterer Geiseln zu erreichen.

Brutale Logik der fünf Gazakriege

Die brutale Logik der mittlerweile fünf Gazakriege ist mit der Übereinkunft nicht außer Kraft gesetzt. Die Hamas strebt keine Zwei-Staaten-Lösung an. Sie möchte Israel vernichten, wie ihre Führung betont. Sie nutzt die Zeit zwischen den Kriegen, um für den nächsten Terrorangriff aufzurüsten. Dann folgt Israels Gegenschlag, um das Potenzial der Hamas so weit es geht zu dezimieren.

Die Hamas wird die Waffenruhe nutzen, um sich aus dem militärischen Druck Israels zu befreien, sich neu zu gruppieren und möglichst viele Kämpfer und Waffen in Sicherheit zu bringen – für die nächste Attacke auf israelische Zivilisten.

Mit der Entscheidung, sich darauf einzulassen, rettet Israels Regierung die Geiseln, die jetzt freigelassen werden. Aber sie bringt zugleich die Soldaten, die nach der Waffenruhe die Offensive fortsetzen sollen, in höhere Gefahr, weil sie auf eine reorganisierte Hamas treffen werden.

Und selbst wenn Israel sich dem Druck beugen würde, die Waffenruhe zu verlängern und die Kämpfe nicht wieder aufzunehmen: Dann wäre die Konsequenz, dass ein Gutteil der Waffen und Kämpfer, die die Hamas für den nächsten Terrorangriff braucht, unangetastet bleibt. Auch damit überantwortet die Regierung Menschen dem Tod. Sie weiß heute nur noch nicht, wer die Opfer sein werden und wann genau.

Aber: Spürt nicht auch die palästinensische Seite dieses moralische Dilemma? Steht nicht auch ihre Führung vor der Abwägung, wie viele Menschen sie mit ihren Entscheidungen über die Kampfführung und diplomatische Kompromisse rettet oder in Todesgefahr bringt?

Für die Hamas gilt das offenkundig nicht. Sie ist eine Terrororganisation. Die Minimierung der Opfer ist nicht ihr Ziel. Sie nutzt zivile Gebäude als Schutzschild, um die Zahl palästinensischer Opfer in die Höhe zu treiben. Desto größer wird der internationale Druck auf Israel, die Selbstverteidigung zu begrenzen oder zu beenden.

Wo bleibt da die Hoffnung? Auf jeden neuen Krieg folgen Versprechen, nun aber wirklich alles für eine diplomatische Lösung des Palästinakonflikts zu tun. Das gebietet auch jetzt die Verantwortung. Doch die Erfolgsaussichten waren in den 1990er Jahren viel besser als heute.

In der Realität des Nahen Ostens 2023 ist der sechste Gazakrieg wahrscheinlicher als ein Friedensschluss, der hält. Umso höher ist es zu bewerten, dass dieser zeitlich begrenzte Erfolg von Diplomatie und Humanität möglich wurde.

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