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Willy Brandt sprach am 26. September 1973 als erster deutscher Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen.

© Imago/Sven Simon

50 Jahre Deutschland in den Vereinten Nationen: Wenn es die UN nicht gäbe, müsste man sie erfinden

Viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, hohes internationales Ansehen: Deutschland muss mehr Führung und Verantwortung übernehmen, fordert der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.

Ein Gastbeitrag von Christoph Heusgen

Vor wenigen Tagen beim G20-Gipfel in Neu-Delhi stand es Spitz auf Knopf: Würde es eine gemeinsame Abschlusserklärung geben? Sollte die russische Aggression gegen die Ukraine Erwähnung finden oder nicht? Die Kontrahenten einigten sich auf einen Kompromiss: Sprache aus der UN-Charta!

Wir erleben heute ein Ausmaß an Polarisierung, das in der jüngeren Geschichte präzedenzlos ist: Ost gegen West, Nord gegen Süd. Wir erleben eine Rückkehr von Krieg nach Europa. Wir erleben weltweit weitere blutige Konflikte, Flüchtlingsströme, verheerende Auswirkungen des Klimawandels.

Die einzige Ordnung von globaler Legitimität

Es gibt nur eine solide Basis, auf deren Grundlage die aktuellen Krisen gelöst werden können. Und das ist die regelbasierte internationale Ordnung mit der UN-Charta von 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es handelt sich dabei nicht – wie Kritiker behaupten – um eine „westliche“, sondern um eine universelle Basis, die von Vordenkern aus aller Welt – auch aus Russland und China – ausgearbeitet wurde. Es gibt keine andere Ordnung von globaler Legitimität.

An diesem Montag ist es 50 Jahre her, dass Deutschland Mitglied der Vereinten Nationen wurde. Mit dem Grundlagenvertrag wurde Ende 1972 das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten geklärt. Damit stand ihrer UN-Mitgliedschaft nichts mehr im Wege.

Heute ist Deutschland zweitgrößter Zahler der UN. Die Bundesregierung engagiert sich, kandidiert alle acht Jahre für den Sicherheitsrat. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag im New York vor der Generalversammlung spricht, wird er ein Bekenntnis zur UN ablegen.

Wenn es die Vereinten Nationen nicht gäbe, müsste sie neu erfunden werden. Hier treffen sich regelmäßig die meisten der 193 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt, legen in Sitzungen ihre Positionen dar, reden am Rande miteinander, versuchen Konflikte zu lösen.

Die verabschiedeten Regeln, Entscheidungen, Ziele haben weltweit Geltung. Es sind einzig und allein Vereinbarungen wie das im UN-Rahmen verabschiedete Pariser Klimaabkommen, die konkrete Wege aufweisen, wie die Welt ihr langfristiges Überleben sichern kann.

Deutschland wird vorgeworfen, dass wir unser Ansehen nicht stärker bei der Konfliktlösung einbringen, ja sogar regelmäßig abtauchen. Dies muss sich ändern.

Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz

Diese globale Weltordnung steht derzeit unter Beschuss. Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verstößt gegen die Grundprinzipien der UN-Charta: die territoriale Integrität und Souveränität aller Mitgliedsstaaten sowie das Gebot der friedlichen Streitbeilegung.

Vorwurf an den Westen: Doppelmoral

Eine Mehrheit der Staaten in Afrika, Lateinamerika und Asien haben zusammen mit dem „Westen“ Russland verurteilt. Allerdings werfen sie uns Doppelmoral vor: Wieso gab es 2003 nicht den gleichen Aufschrei, als die USA völkerrechtswidrig in den Irak einmarschiert sind? Oder als sie in den Jahrzehnten zuvor mehrfach in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten intervenierten?

Die Staaten, die inzwischen gerne unter dem Begriff „Globaler Süden“ zusammengefasst werden, werfen uns auch vor, mit dem Klimazeigefinger herumzulaufen – ohne gleichzeitig unsere Hauptschuld am Klimawandel einzugestehen und die darunter leidenden Entwicklungsländer ausreichend zu kompensieren.

Und sie werfen uns vor, bei der Covid-Pandemie egoistisch nur an uns selbst gedacht zu haben, und erst nachrangig die ärmeren Bevölkerungen in Afrika, Lateinamerika und Südostasien berücksichtigt zu haben. Sie werfen uns vor, das Weltfinanzsystem auf westliche Anliegen ausgerichtet zu haben und dabei den enormen Bedarf der Entwicklungsländer an günstigen Finanzierungsmöglichkeiten zu ignorieren.

Weiter einen dritten Sitz für den schrumpfenden Kontinent Europa zu verlangen, während das rasant wachsende Afrika bisher noch keinen hat, ist nicht zu rechtfertigen.

Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz

Deutschland hat sich in den letzten 50 Jahren ein hohes Ansehen erworben. Wir werden geschätzt, uns wird kein neokolonialistisches oder paternalistisches Verhalten vorgeworfen.

Was uns jedoch vorgeworfen wird, ist, dass wir unser Ansehen nicht stärker bei der Konfliktlösung einbringen, ja sogar regelmäßig abtauchen. Dies muss sich ändern. Als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt verfügen wir neben Ansehen auch über die wirtschaftlichen Mittel. Deutschland muss Führung und Verantwortung übernehmen.

Deutschlands Rolle in der Welt

Erstens: Wir müssen die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen bündeln. Das heißt, die Mittel der staatlichen Entwicklungspolitik, der großen Entwicklungsbanken und der Privatwirtschaft zusammenzuführen. Nur so können wir den Entwicklungsländern große Infrastrukturprojekte sowie Unternehmens- und Arbeitsplatzansiedlungen anbieten – und damit eine Alternative zum chinesischen Engagement.

Zweitens: Wir müssen in Afrika, Lateinamerika und Asien sehr viel präsenter sein. Das bedeutet, unsere Botschaften zu Lasten der Zentrale und unserer Vertretungen in westlichen Ländern massiv aufzustocken. Ideal wäre, Personal und Ressourcen in Vertretungen der EU zu verlagern – wenn wir in Europa außenpolitisch an einem Strang zögen.

Drittens: Wir müssen uns stärker engagieren bei der Reform der großen Finanzinstitutionen und des UN-Sicherheitsrates. Hier müssen wir uns eingestehen, dass unser Festhalten an der Forderung eines ständigen Sitzes nicht mehr zeitgemäß ist.

Weiter einen dritten Sitz für den schrumpfenden Kontinent Europa zu verlangen, während das rasant wachsende Afrika bisher noch keinen hat, ist nicht zu rechtfertigen. Ein solches Eingeständnis könnte viele zögernde Staaten mitreißen und dem stockenden Reformprozess einen neuen Anschub geben.

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