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Ummauert und ausgegrenzt im päpstlichen Rom. Blick auf die Via del Portico d’Ottavia im römischen Ghetto um 1860. Der drei Hektar große Bereich am linken Ufer des Tiber war das letzte westeuropäische Ghetto vor der Nazizeit. Es wurde 1870 befreit.

© Wikimedia Commons / Sconosciut

Die Wurzeln des Antisemitismus: Wie christliche antijüdische Stereotype entstanden

Lange Zeit wurden der theologische Antijudaismus und moderner Antisemitismus als getrennte Phänomene wahrgenommen. Sie müssen jedoch gemeinsam betrachtet werden, sagen Rainer Kampling und Sara Han.

Von Dennis Yücel

Der Antisemitismus grassiert in Europa bereits seit Langem. Wer christliche Schriften aus der Spätantike aufschlägt, findet dort Verunglimpfungen und – ab dem 4. Jahrhundert – Aufrufe zur Gewalt gegenüber jüdischen Menschen. Dabei werden Stereotype und Denkmuster aufgerufen, die bis heute zirkulieren. „Es reicht von böswilligen Darstellungen jüdischer Menschen als geldgierig, machtgetrieben und moralisch deformiert“, sagt Rainer Kampling, „bis hin zu den haltlosen Unterstellungen, dass Juden die Schuld am Tode Jesu trügen, Kinder töteten, Brunnen vergifteten.“ 

Rainer Kampling ist Katholischer Theologe und emeritierter Professor für biblische Theologie an der Freien Universität; er koordiniert das Verbundprojekt „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Kampling spricht sich gegen vereinfachende Darstellungen in der öffentlichen Debatte aus, etwa, dass christlicher Antijudaismus in Deutschland ein Relikt der Vergangenheit sei oder religiös begründeter Antisemitismus ein „Import“ aus muslimisch geprägten Ländern. „Der Antisemitismus ist nach 1945 nicht plötzlich aus Deutschland verschwunden“, sagt er. „Und zeitgenössische Formen des Judenhasses sind nicht eine Folge der Migration. Der Antisemitismus ist bis heute tief in die Kulturgeschichte des Christentums und damit auch Deutschlands eingeschrieben.“

Fokus liegt auf der Gegenwart Im Rahmen des Verbundprojekts wird der christliche Hintergrund des Antisemitismus in drei Forschungsprojekten in den Blick genommen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Bezügen zu zeitgenössischen Erscheinungsformen. Beteiligt sind neben der Freien Universität Berlin, das Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) und die Evangelischen Akademien in Deutschland in Kooperation mit dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. „Religiös-christlich motivierter Antisemitismus einerseits und sogenannter moderner, rassistisch motivierter Antisemitismus andererseits wurden oft als verschiedene Strömungen betrachtet“, sagt Sara Han. „Tatsächlich lassen sie sich aber nicht trennen.“

Die Judaistin und Katholische Theologin untersucht im Rahmen des Verbundprojekts insbesondere Kontinuitäten in beiden deutschen Staaten nach 1945. „Es gab sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik kirchliche Initiativen, die nach der Shoa den Dialog mit jüdischen Menschen suchten“, sagt sie. „Lange Zeit glaubte man seitens der Kirche, dass die Arbeit damit getan sei.“

Von der Abgrenzung zum Feindbild

Es werde jedoch deutlich, dass antisemitische Denkweisen, deren Ursprung in einer antijudaistischen Theologie liegt, bis heute in der Gesellschaft verbreitet sind. „Solche Anschauungen sind ganz deutlich in den Verbindungen zwischen neurechten und sich christlich verstehender Gruppen, die auch politisch wirken, zu finden, und sich gemeinsam explizit auf christliche Traditionen berufen“, sagt Sara Han. „Aber eben auch im Zuge der sogenannten Querdenker-Bewegung während der Corona-Pandemie waren sie zu hören. Und jetzt, seit Ausbruch des Krieges in Israel und Gaza wieder.“

Die Ursprünge des theologischen Antisemitismus verortet Rainer Kampling bereits in den Anfängen dessen, was später zum Christentum wurde. Es handelte sich um eine religionssoziologische Erscheinung bei einer Minderheit. „Um das Jahr 50 herum gab es eine verschwindend kleine Gruppe von Getauften, die sich zumeist als Juden verstanden“, sagt er. „Das Judentum hingegen war im Römischen Machtbereich weit verbreitet, deren gemeinsames Zentrum der Tempel zu Jerusalem war.“

Zwischen beiden Glaubensgemeinschaften habe es oft keine scharfe Trennlinie gegeben. Auch in späteren Jahrhunderten hätten Menschen bezweifelt, dass sich die christliche und die jüdische Glaubenspraxis grundlegend unterschieden. „Es gab viele Menschen, die sich damals als zu beiden Gruppen zugehörig verstanden“, sagt Rainer Kampling. „Juden, die die Taufe wollten, Christen, die die Beschneidung wollten.“ Doch frühe christliche Theologen fürchteten, dass derartige Beispiele die kleine christliche Gemeinschaft gefährden könnten. Deshalb hätten sie gezielt versucht, einen Keil zwischen beide Gruppen zu treiben. „Es ging um die Konsolidierung der christlichen Gemeinschaft“, sagt Kampling, „darum, die eigene Gruppenidentität zu stärken, indem man sich von anderen abgrenzt, die anderen abwertet.“

Der Versuch der Abgrenzung sei jedoch von vornherein von theologischen Schwierigkeiten geprägt gewesen. „Die ersten Christen wollten anders sein als alle anderen. Gleichzeitig war ihr Glaube zutiefst abhängig von den jüdischen Schriften, auf deren Deutung sie einen Alleinvertretungsanspruch meinten zu haben.“ Ohne das Alte Testament konnte der junge christliche Glaube nicht existieren. „Und diese Abhängigkeit ist die brennende Wunde des christlichen Antijudaismus“, sagt der Theologe.

In diesem Wechselspiel aus Abgrenzung und Abhängigkeit wuchs der Hass, der sich durch viele Jahrhunderte christlicher Geschichte zieht. Von zentraler Bedeutung für den christlich-europäischen Antisemitismus waren die Pestjahre zwischen 1347 und 1353. In ganz Europa wurden jüdische Menschen für die Pesttoten verantwortlich gemacht, man warf ihnen vor, Brunnen vergiftet zu haben. Es kam zu schweren Pogromen. Ganze jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht – oft mit Billigung christlicher Geistlicher. „Während der Pest wurden die Juden als hinterlistige Verschwörer mit Mordgelüsten gebrandmarkt und verfolgt“, sagt Rainer Kampling. „Es war die Geburtsstunde von Verschwörungstheorien, wie wir sie noch heute kennen.“

Antisemitische Aussagen in heutiger Zeit

Damit eine Aussage als antisemitisch zu bewerten ist, müssten Juden nicht explizit benannt werden, sagt Sara Han. „Bei Verschwörungstheorien geht es oft um die Vorstellung, dass es diffuse Mächte gibt, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Und diese Menschen waren und sind in der Vorstellung vieler Menschen ‚die‘ Juden, auch wenn man vielleicht verklausuliert von ‚Eliten‘ spricht.“

Ein zweiter Mechanismus des Antisemitismus sei die Kollektivierung. „Das sehen wir heute im Rahmen der Auseinandersetzung um den Krieg in Israel und Gaza ganz deutlich“, sagt Sara Han. „Da werden ‚die Juden‘ für die Aktionen der israelischen Regierung kollektiv verantwortlich gemacht. Solche Argumentationen sind antisemitisch motiviert.“

Rainer Kampling und Sara Han sehen die aktuellen Entwicklungen in Deutschland mit Sorge. Auch an der Freien Universität fühlten sich viele jüdische Studierende in den vergangenen Monaten stark verunsichert und bedroht. Rainer Kampling begrüßt es daher, dass sich Menschen, die auf dem Campus Antisemitismus erleben oder beobachten, an eine Ansprechperson wenden können: „Diese Vertrauensperson berät vertraulich und individuell zu Strategien für alle von Antisemitismus Betroffenen“, sagt er. „Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dem wir uns gemeinsam stellen müssen.“

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