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Wie lernen Kinder sprechen? Wie verbinden sich im Gehirn Begriffe mit konkreten Dingen und abstrakten Konzepten? Neugeborene haben davon noch kaum eine Vorstellung.

© picture alliance / Waltraud Grub

Sprache und Denken: Was simulierte Gehirnareale und Erfahrung verbindet

An der Freien Universität arbeiten Friedemann Pulvermüller und sein Team an einem neuen Gehirnmodell – mit künstlicher Intelligenz.

Von Jennifer Gaschler

Wir wissen inzwischen sehr gut, welche Hirnareale bei der Sprachverarbeitung aktiv sind“, sagt Friedemann Pulvermüller, Professor für Neurowissenschaft an der Freien Universität und Leiter des Labors für Sprach- und Gehirnforschung. Die Schlüsselfrage sei jetzt: „Wie arbeiten Gruppen von Nervenzellen zusammen, um Sprache und Verständnis zu ermöglichen?“ Ein großer Schritt gelang dem Team des Forschers nun mit einem neuronalen Modell. Dieses ahmt mit künstlicher Intelligenz die Lernstrukturen des menschlichen Gehirns nach. Somit lassen sich Theorien zur Sprache und Kognition unter realitätsnahen Bedingungen testen.

Man verstehe etwas erst dann, wenn man es nachbauen könne, erläutert der Neurowissenschaftler mit Blick auf die Strategie hinter dem Vorgehen. Das neue Gehirnmodell umfasse deshalb computergesteuerte Vorrichtungen, die den humanen Nervenzellen (Neuronen) ähnlich seien. Es ist ein Netzwerk, das zwölf Gehirnareale simuliert, die für die Sprachverarbeitung verantwortlich sind: unter anderem die visuellen und akustischen Systeme, die sprechmotorischen und artikulatorischen Bereiche sowie den Planungsbereich. Auch die Verbindungsstruktur zwischen diesen Arealen ist der Großhirnrinde des Menschen nachempfunden worden. Die etwa 20 000 programmierten Neuronen des Modells repräsentierten die Zusammenarbeit der circa zehn Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn.

„Wir bringen unserem Netzwerk Sprache und Konzepte bei und untersuchen dann die neuronalen Verbindungen“, erklärt Friedemann Pulvermüller. Dies sei der fundamentale Lernmechanismus eines Gehirns: Es baut Korrelationen auf zwischen Neuronen, die oft gemeinsam aktiviert werden. Soll etwa das Wort „Auge“ erlernt werden, zeigen die Wissenschaftler Fotos von Augen, spielen eine Tondatei mit der Aussprache sowie Videos von sprechenden Mündern vor und vermitteln dazu die Vokabel. Bei „Auge“ handele es sich um einen konkreten Begriff, erklärt Friedemann Pulvermüller. Die meisten Augen haben ähnliche Eigenschaften, mittig runde Formen, außen geschwungene Linien und befinden sich in den Gesichtern von Lebewesen. „Wir konnten nun am Modell zeigen, wie die Nervenzellen in diesem Fall zusammenarbeiten: Bei konkreten Konzepten sind stets die gleichen Neuronen aktiv, deshalb verbinden sie sich immer stärker.“

Wir bringen unserem Netzwerk Sprache und Konzepte bei und untersuchen dann die neuronalen Verbindungen.

Friedemann Pulvermüller, Professor der Freien Universität für Neurowissenschaft der Sprache und Pragmatik und Leiter des Labors für Sprach- und Gehirnforschung

Anders sei das bei abstrakten Konzepten wie „Schönheit“ oder „Demokratie“, sagt der Neurowissenschaftler: „Wir empfinden Augen als schön, aber auch Sonnenuntergänge oder Gemälde. Diese haben aber nicht viel gemeinsam.“ Somit seien auch deutlich weniger Nervenzellen gleichzeitig aktiv als bei konkreten Konzepten, wie die Computersimulationen zeigten. Dass etwa Naturphänomene und Kunstwerke zugleich unter dem Konzept „schön“ gedacht werden können, sei der Sprache zu verdanken: „Sprache unterstützt die Konzeptbildung. Erst der Begriff ‚Schönheit‘ lässt uns das Konzept wirklich begreifen“, sagt Friedemann Pulvermüller.

Durch erlernte Erfahrung könne man Gefühlskonzepte wie „Freude“ oder „Trauer“ einordnen. Aber erst durch Sprache könnten auch beispielsweise Personen, die in einem autokratischen Land leben, verstehen, was mit „Demokratie“ gemeint sei. Erhielt die Gehirnsimulation eine sprachliche Grundlage für ein Konzept, konnte auch bei abstrakten Begriffen eine starke neuronale Vernetzung nachgewiesen werden: „Das verbale Label verbindet die Informationen, auch wenn die Eindrücke sehr vielfältig sind. Die Wortrepräsentation macht den entscheidenden Unterschied“, verdeutlicht der Neurologe.

Größerer Lerneffekt über Worte

Was im Modellgehirn passiert, wird den Wissenschaftlern als „Aktivationsmuster“ angezeigt. Es enthält die Information, ob die Neuronen der verschiedenen Gehirnareale auf den Sinneseindruck, das Wort oder das Konzept reagieren. Erhält das Netzwerk eine Vokabel, mit der es den Begriff verbinden kann, findet deutlich mehr Aktivität statt. Dies sei lerntechnisch wünschenswert, sagt Friedemann Pulvermüller: „Neuronen, die oft gemeinsam aktiviert werden, verbinden sich stärker.“ Auch bei einfacheren Konzepten wie „Hund“ oder „Essen“ sei das hilfreich.

Die Experimente hätten gezeigt, dass der Lerneffekt viel länger anhalte, wenn dem Gehirnmodell nicht nur visuelle Information zur Verfügung gestellt worden seien: „Wir konnten beobachten, dass stark verschaltete Nervenpopulationen entstehen, wenn Sprache und Sinneseindrücke gemeinsam verarbeitet werden.“ Sie seien beim Verständnis der Welt hilfreich, weil sie eine Art „Schubladendenken“ ermöglichen: Aufgrund von Ähnlichkeiten könnten Menschen so auch etwa unbekannte Tiere, Nahrungsmittel oder Ideen erkennen und vergleichend einordnen. Diese biologische Grundlage von Konzepten konnte nun zum ersten Mal mithilfe des neuen Gehirnmodells visualisiert werden. „Unsere Studie zeigt, dass Sprache und Denken noch stärker zusammenhängen als bisher angenommen“, konstatiert Friedemann Pulvermüller.

Möglich seien die Ergebnisse auch durch die gute Zusammenarbeit über die Fachrichtungen hinweg, betont er. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Informatik, Computerlinguistik, Kognitionswissenschaft, Sprachwissenschaft und Neurobiologie gehören zu seinem Team. Seit 2021 forschen sie im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat mit 2,5 Millionen Euro geförderten Advanced-Grant-Projekts mit dem Titel „Material Constraints Enabling Human Cognition“ über materielle Bedingungen, die Menschen die Wahrnehmung ermöglichen. Das Vorhaben wird mit rund einer Million Euro aus dem Förderprogramm für Spitzenforschung des Europäischen Forschungsrats unterstützt.

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