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Das Heizkraftwerk Reuter-West mit seinem imposanten Kühlturm versorgt Hunderttausende Haushalte in Berlin mit Fernwärme und Warmwasser.

© IMAGO/Funke Foto Services/Bearbeitung: Tagesspiegel

Tauchsieder, Energie aus Müll, Wärmepumpen: Wie Berlins größter Klimasünder sauber werden soll

Das Kraftwerk Reuter-West verursacht ein Zehntel der Berliner CO₂-Emission. Aber es ist unverzichtbar für die Wärmeversorgung. Deshalb wird schrittweise neu gebaut.

Der dicke Kühlturm des Heizkraftwerks Reuter-West gehört zu den Wahrzeichen des Berliner Westens. Was man von weitem nicht sieht: Um Hunderttausende Haushalte zwischen Spandau und Mitte mit Fernwärme und Warmwasser zu versorgen, verschlingen die beiden Kraftwerksblöcke neben dem Kühlturm jeden Tag rund 3000 Tonnen Steinkohle.

Deren Verbrennung erzeugt 500 Megawatt elektrische und 710 Megawatt thermische Leistung zur Strom- und Wärmeversorgung, aber verursacht pro Jahr etwa 1,6 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Damit ist das Kraftwerk der mit Abstand größte Einzelposten in Berlins CO₂-Bilanz – verantwortlich für rund zehn Prozent aller hier verursachten Emissionen. Entsprechend gewaltig ist die Aufgabe, die der Fernwärmebetreiber – ganz gleich, ob es Vattenfall bleibt oder ein kommunales Unternehmen sein wird – lösen muss. Um die Kohle komplett durch Holz oder Biogas zu ersetzen, ist die Anlage viel zu groß.

Ein Schaufenster der Energiewende

Stattdessen soll die Klimaneutralität mit einem Mix von Technologien gelingen, die jede für sich genommen keineswegs Hightech sind – aber zusammen ein ausgeklügeltes System bilden sollen, ja, bilden müssen: „Wir können uns hier keine Experimente erlauben, denn wir müssen unter allen Umständen sicherstellen, dass Berlin warm bleibt“, sagt Christian Feuerherd. Als Chef der Berliner Fernwärmesparte von Vattenfall ist Feuerherd schon geübt darin, dieses Schaufenster der Energiewende zu präsentieren, in dem gerade kräftig umgeräumt wird.

 „Ich wüsste nicht viele Aufgaben, die komplexer sind“, sagt Christian Feuerherd über seinen Job als Chef der Berliner Fernwärmesparte von Vattenfall.
 „Ich wüsste nicht viele Aufgaben, die komplexer sind“, sagt Christian Feuerherd über seinen Job als Chef der Berliner Fernwärmesparte von Vattenfall.

© IMAGO/Funke Foto Services

Neben dem dominanten Kohlemeiler steht seit 2019 eine graue Halle mit Wellblechfassade, in der die laut Vattenfall größte Power-to-Heat-Anlage Europas steckt: drei Kessel mit Tauchsiedern, fast so hoch ein Einfamilienhaus. Wenn tagsüber die Sonne auf Solaranlagen scheint und in Brandenburg die Windräder rotieren („Power“), wird mit dem reichlich vorhandenen Ökostrom hier Wasser für die Fernwärme geheizt („Heat“).

Ein wirklich wetterfestes Gesamtpaket ergibt dieser 120-Megawatt-Wasserkocher aber erst in Kombination mit dem 45 Meter hohen silbrigen Zylinder, der auf der anderen Seite des Kohlemeilers gerade fertiggestellt wurde. 56 Millionen Liter Wasser fasst dieser Thermosbecher, laut Vattenfall der größte seiner Art in Deutschland.

Befüllt wird er über ein Rohr aus dem Wasserkocher nebenan. Wenn abends die Sonne untergeht und die Kälte kommt, kann der Speicher das heiße Wasser ins Fernwärmenetz schicken. Voll aufgeheizt kann er mindestens 13 Stunden lang Wärme in mehrere Zehntausend Wohnungen liefern; im Sommer fürs Warmwasser, im Winter auch zum Heizen. In dieser Saison geht der Speicher ans Netz – um einen Teil der klimaschädlichen Kohle zu ersetzen.

Der Heißwasserspeicher in Reuter-West fasst 56 Millionen Liter Wasser.
Der Heißwasserspeicher in Reuter-West fasst 56 Millionen Liter Wasser.

© Stefan Jacobs

Mit der Kohlefeuerung ist Reuter-West momentan eher die Ausnahme im Berliner Fernwärmenetz. Denn das laut Feuerherd größte Fernwärmenetz Europas basiert zu drei Vierteln auf Erdgas, das als weniger klimaschädliche Alternative zur Kohleverbrennung Karriere machte, aber den aktuellen Klimazielen nicht mehr genügt und sich nach Russlands Überfall auf die Ukraine plötzlich als Risiko erwies. In Reuter-West soll Gas künftig Wärme für winterliche Verbrauchsspitzen liefern. Ein Reserveheizwerk für die kältesten Tage des Jahres, das perspektivisch auch mit Wasserstoff befeuert werden kann.

Komplett wird der Mix auf dem Kraftwerksgelände erst dank der Nachbarschaft. Feuerherd deutet aus dem Fenster des Verwaltungsgebäudes zum anderen Spreeufer nach Ruhleben. Dort befindet sich die Müllverbrennungsanlage der Berliner Stadtreinigung, die mit dem kleineren Nachbarkraftwerk Reuter schon jetzt über eine Leitung verbunden ist.

Durch das Rohr, das neben dem Gleis für die Kohlezüge die Spree überquert, strömt von der Müllverbrennung erhitzter Wasserdampf zum Kraftwerk, wo er eine Turbine antreibt und über Wärmetauscher seine Hitze ans Fernwärmenetz abgibt. Das abgekühlte Wasser fließt zurück zur BSR für die nächste Runde.

Eine neue Dampfturbine kommt 2026

Aus Sicht von Umweltverbänden ist Energie aus Müllverbrennung nicht wirklich grün. Aber im Vergleich zu Kohle allemal, solange „Zero Waste“ eine Vision ist und die Wegwerfgesellschaft die Realität. Die aktuelle Dampfturbine wird durch ein neues Modell ersetzt, das 2026 in Betrieb gehen und 110 Megawatt Wärme sowie 30 Megawatt Strom liefern soll. Zurzeit wird der Boden für die neue Halle planiert, direkt neben dem Heißwasserspeicher.

Die vielen Neubauten rund um Kühlturm und Kohlemeiler verursachen zunehmende Platzprobleme auf dem Gelände. Sogar die breit und flach am Spreeufer stehenden alten Sozialgebäude sollen abgerissen und durch eine kompaktere Immobilie für Kantine und Co ersetzt werden.

Denn auch Deutschlands größte Abwasser-Wärmepumpen sollen in Reuter-West installiert werden. Die ziehen nach dem Kühlschrank-Prinzip Energie aus dem gereinigten Abwasser von Berlins größtem Klärwerk, das die Wasserbetriebe als direkte Nachbarn der BSR ebenfalls am gegenüberliegenden Spreeufer in Ruhleben betreiben. Je nach Jahreszeit hat das sogenannte Klarwasser zwölf bis 27 Grad. Per Kompressor soll es im Jahresmittel um etwa zehn Grad abgekühlt und die dabei frei werdende Energie genutzt werden.

Das Heizkraftwerk Reuter-West mit dem Kühlturm des Kohlemeilers. Im Hintergrund das Klärwerk Ruhleben der Berliner Wasserbetriebe.
Das Heizkraftwerk Reuter-West mit dem Kühlturm des Kohlemeilers. Im Hintergrund das Klärwerk Ruhleben der Berliner Wasserbetriebe.

© Stefan Jacobs

Wie jeder Kühlschrank braucht auch diese Anlage Strom zum Betrieb, aber unterm Strich wird etwa die drei- bis vierfache Energiemenge gewonnen – in diesem Fall für die Wärmeversorgung von etwa 45.000 Haushalten.

Christian Feuerherd ist jetzt voll auf Betriebstemperatur, nachdem er die fünf Neuzugänge im Schaufenster Reuter-West beschrieben hat. Dabei gibt es noch einen sechsten, von dem der Manager aufs große Ganze kommt: Bis 2029 soll auf dem Areal auch noch ein Biomasse-Heizkraftwerk gebaut werden, das in bewährter Kraft-Wärme-Kopplung gleichzeitig Strom und Wärme erzeugt.

Holzabfälle statt kostbares Stammholz

In der neuen Anlage sollen Holzabfälle verfeuert werden, die aus Grünschnitt, von Agrarholzflächen oder aus der Waldbewirtschaftung stammen können. Feuerherd sieht darin die bessere Alternative zu den nach seinen Angaben noch 115.000 privaten Berliner Holzheizungen, in denen teils kostbares Stammholz aus dem Baumarkt verheizt wird – ohne dass ein Filter den Feinstaub zurückhält.

Blick auf die Stromversorgung der Tauchsieder in der Power-to-heat-Anlage in Reuter-West.
Blick auf die Stromversorgung der Tauchsieder in der Power-to-heat-Anlage in Reuter-West.

© Stefan Jacobs

In Brandenburg betreibt Vattenfall bereits sogenannte Kurzumtriebsplantagen, auf denen alle paar Jahre Pappeln geerntet werden können, die selbst auf den kargsten Böden wachsen. Feuerherd hofft, dass beim geplanten Ausbau des Fernwärmenetzes vor allem Häuser mit solchen ineffizienten Holzheizungen und maximal klimaschädlichen Ölbrennern angeschlossen werden. Außerdem gebe es etwa in Spandau, Schöneberg und Prenzlauer Berg noch viele Straßen, in denen nicht alle Gebäude an die vorhandene Fernwärmeleitung angeschlossen sind.

Wasserstoff wird auch in Zukunft seinen Preis haben, aber an allen unseren Standorten eine große Rolle spielen müssen.

Christian Feuerherd, Vorstandsvorsitzender der Vattenfall Wärme Berlin AG

Auch durch Reparatur solcher Flickenteppiche – im Fachjargon: Verdichtung – soll der Marktanteil der Fernwärme bis 2040 von zurzeit gut 30 auf mindestens 50 Prozent wachsen. Feuerherd geht allerdings davon aus, dass das nur mit geänderten Regularien gelingen kann. Eine Wärmeplanung für Berlin ist in Arbeit. Natürlich hilft es auch, wenn durch energetische Modernisierung der Gebäude der Wärmebedarf insgesamt sinkt. Aber bei der Wärmeversorgung sei das Geld für die Modernisierung deutlich effektiver investiert als im einzelnen Gebäude, sagt Feuerherd mit Verweis auf eine Studie.

Nach dem Rundgang durchs Kraftwerks-Schaufenster der Zukunft ist klar, dass grüner Strom die Hauptrolle spielen wird bei der künftigen Fernwärmeerzeugung – direkt (Tauchsieder) ebenso wie indirekt (Großwärmepumpen). Und auf lange Sicht auch bei der Herstellung von Wasserstoff, um Erdgas zu ersetzen und Energie für windstille Phasen ohne Sonnenschein zu speichern. „Wasserstoff wird auch in Zukunft seinen Preis haben, aber an allen unseren Standorten eine große Rolle spielen müssen“, sagt Feuerherd.

Inwieweit das vorhandene Gasnetz dafür genutzt werden könne, kläre man zurzeit mit der Gasag und deren Netztochter NBB. Da die meisten der neuen Techniken auf Grünstrom basieren, ist Berlin aus Sicht von Feuerherd auf Brandenburg und zunehmend auch auf Mecklenburg-Vorpommern angewiesen, wo reichlich Ökostrom und Wasserstoff erzeugt werden können. Wobei die Netze bisher nicht darauf ausgelegt sind, solche Mengen nach Berlin zu bringen, weshalb auch sie ausgebaut werden müssen. Und bei alldem muss die Fernwärme bezahlbar bleiben. „Ich wüsste nicht viele Aufgaben, die komplexer sind“, resümiert Feuerherd mit leuchtenden Augen.

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