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Cansel Kiziltepe (SPD), Berliner Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, im Gespräch.

© dpa/Hannes P Albert

Update

Innenministerium verweist auf Zuständigkeit der Länder: Berlins Integrationssenatorin fordert Stadtstaaten-Sonderregel bei Flüchtlingsverteilung

Cansel Kiziltepe sieht Änderungsbedarf bei der Verteilung von Geflüchteten. In einem Stadtstaat wie Berlin herrsche Platzmangel, sagt die SPD-Politikerin.

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Angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen fordert Berlins Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe Änderungen beim Verteilungsmechanismus in Deutschland. „Wir brauchen eine Reform des Königsteiner Schlüssels, wir brauchen eine Sonderregel für Stadtstaaten wie Berlin“, sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Zur Begründung verwies sie darauf, dass dicht besiedelte Stadtstaaten wie Berlin naturgemäß nur begrenzt Flächen für neue Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung hätten. Daher sei die aktuelle Regelung zur Verteilung der Menschen auf die Länder unter anderem auf Basis von deren Einwohnerzahl nicht mehr zeitgemäß. Sie sei dazu bereits im Gespräch mit Hamburg und Bremen, sagte Kiziltepe.

Verfügbarer Wohnraum, Armutsquoten und andere soziale Parameter müssen einbezogen werden.

Stefan Strauß, Sprecher der Senatsintegrationsverwaltung

„Die Stadtstaaten kommen aufgrund des fehlenden Platzes schlichtweg an ihre Grenzen“, teilte der Sprecher der Senatsintegrationsverwaltung, Stefan Strauß, dem Tagesspiegel auf Anfrage mit. Für Berlin, Hamburg und Bremen sei es „im Vergleich zu den Flächenländern eine enorme Herausforderung, geflüchtete Menschen bedarfsgerecht unterzubringen“, erklärte er. Die Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel müsse in dieser Frage grundsätzlich überdacht werden. „Verfügbarer Wohnraum, Armutsquoten und andere soziale Parameter müssen einbezogen werden.“

In Deutschland legt der Königsteiner Schlüssel fest, wie viele Asylbewerber ein Bundesland aufnehmen muss. Berechnet wird dies auf Basis der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl. Auf Berlin entfallen laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 5,2 Prozent. Hinzu kämen nach wie vor viele Ukrainer, die vor dem russischen Angriffskrieg flüchteten, sagte Kiziltepe. Viele kämen privat unter. „Und natürlich zieht es diese Menschen oft nach Berlin, weil wir hier eine hohe Willkommenskultur haben und auch bei unseren Integrationsleistungen bundesweit Vorreiter sind“, erklärte die Senatorin.

Bremen winkt ab, Kritik aus Bayern

Bremen reagierte überrascht auf den Vorstoß aus Berlin. Das Thema sei vor Monaten aufgekommen, habe sich inzwischen aber im Sande verlaufen, sagte ein Sprecher von Integrationssenatorin Claudia Schilling (SPD). Man sei damals zu dem Schluss gekommen, dass die Unterbringung von Flüchtlingen alle Städte fordere, nicht speziell die Stadtstaaten. Momentan gebe es keine Abstimmungen mit Berlin dazu.

Nach Meinung von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann lenkt Kiziltepe von den eigentlichen Problemen ab. „Wir müssen in Deutschland nicht die Verteilung ändern, sondern den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen“, sagte der CSU-Politiker der dpa. „Es bringt gar nichts, am Verteilungsmaßstab herumzubasteln, wenn die Bundesregierung alle Maßnahmen zu einer Begrenzung der Flüchtlingsmigration torpediert.“ 

Bundesinnenministerium verweist auf Zuständigkeit der Länder

Das Ministerium von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will sich derzeit nicht zu Kiziltepes Vorstoß positionieren und verweist auf die Zuständigkeit der Länder. Aktuelle Diskussionen der Bundesländer zu einer möglichen Veränderung des Verteilungsschlüssels für Asylbewerber nehme das Ministerium zwar zur Kenntnis.

Zuständig seien hier aber allein die Länder, die „durch Vereinbarung untereinander einen Schlüssel für die Aufnahme von Asylbegehrenden durch die einzelnen Länder (Aufnahmequote) festlegen“, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf dpa-Anfrage mit. Bis zum Zustandekommen einer solchen Vereinbarung richte sich die Aufnahmequote für das jeweilige Kalenderjahr weiterhin nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. 

Laut Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) hat Berlin im ersten Halbjahr 2023 etwa 16.000 Geflüchtete aufgenommen. Es handelt sich um 7473 Asylbewerber – ein Plus von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – sowie um 8502 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die einen anderen Aufenthaltsstatus haben. Deren Zahl ging im Vergleich zu 2022 zurück, bewegt sich angesichts des anhaltenden Krieges laut LAF aber immer noch auf hohem Niveau.

10.000
weitere Geflüchtete werden laut Prognosen bis Jahresende in Berlin erwartet.

Kiziltepe geht auf Basis von Prognosen davon aus, dass bis Jahresende weitere 10.000 bis 12.000 Geflüchtete kommen und zu deren Unterbringung auch zeltähnliche Hallen als Provisorien herangezogen werden könnten. Ziel sei grundsätzlich, Zuwanderer mit Wohnungen zu versorgen, sagte die Senatorin und verwies unter anderem auf den Bau modularer Unterkünfte (MUF). „Aber kurzfristig werden wir nicht alle dieser Menschen in Wohnungen unterbringen können. Bevor sie auf der Straße landen, würden wir sie in Leichtbauhallen unterbringen.“

Dies würde auf Basis einer Liste sogenannter Potenzialflächen in allen Bezirken geschehen. Konkrete Standorte nannte Kiziltepe nicht. „Es ist eine Notvariante, die wir als zeitlich begrenzte Lösung sehen“, sagte sie.

Ihr eigentliches Ziel sei es, dass die Flüchtlingsunterbringung in das stadtplanerische Gesamtkonzept integriert wird, sagte die SPD-Politikerin dem Tagesspiegel. „Ich will, dass bei großen Bauprojekten immer ein Anteil an Wohnungen für Geflüchtete eingeplant wird.“ Dies schaffe „echte und schnelle Integration in unsere Gesellschaft und vermeidet Verteilungskämpfe auf dem Wohnungsmarkt.“

Stettner: „Werden Großunterkünfte brauchen“

CDU-Fraktionschef Dirk Stettner forderte schnelles Handeln. „Wir werden leider Großunterkünfte brauchen. Das ist einfache Mathematik“, sagte er der dpa. „Wir wissen, dass die aktuellen Flüchtlingsunterkünfte zu 98,5 Prozent ausgelastet sind. Und es sollen noch geschätzt 10.000 Menschen bis Jahresende dazukommen.“

Auch er sei für eine dezentrale Unterbringung – aber das reiche nicht: „Wir werden vielleicht bis zum Jahresende noch 1500 Plätze dazu bekommen. Und selbst wenn wir vom besten Fall ausgehen, fehlen dann immer noch 8500 Plätze“, sagte Stettner. „Das heißt, wir brauchen Großunterkünfte, die schleunigst hergerichtet werden.“ Dort müsse es auch Schulangebote und medizinische Versorgung geben. „Wir haben Flächen dafür, wir könnten auch Tempelhof erweitern“, sagte Stettner und forderte, beim Thema Großunterkünfte „ideologischen Ballast“ abzuwerfen. „In der Krise können wir darauf leider keine Rücksicht nehmen.“

Stettner warf der Bundesregierung mangelnde Unterstützung vor. Die Ampel-Regierung sorge mit ihrem Nichtstun dafür, dass Kommunen irgendwann Sporthallen schließen müssten. „Das wollen wir nicht, deswegen müssen wir Alternativen aufbauen.“ Er sieht den Bund auch an anderer Stelle in der Pflicht: „Wir brauchen die Asylprüfverfahren dort, wo die Flüchtlinge herkommen. Auch damit fremdelt die Ampel-Regierung aus ideologischen Gründen.“ Durch Realitätsverweigerung von SPD, Grünen und Linke werde das Problem größer und nicht kleiner.

Kein Ausbau der Unterkunft in Tempelhof

Stettners Idee, die Flüchtlingsunterkunft auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof auszubauen, erteilte Verwaltungssprecher Stefan Strauß auf Tagesspiegel-Anfrage eine Absage. „Wir werden das Flugfeld oder die ehemaligen Terminals nicht zu einer weiteren großen Notunterkunft ausweiten“, stellte er klar. „Das widerspricht auch völlig unserer Idee von Integration“ Ziel der Integrationsverwaltung sei vielmehr eine dezentrale Unterbringung der Geflüchteten im gesamten Stadtgebiet.

Nach Angaben der Integrationsverwaltung ist Berlin bei der Unterbringung von Geflüchteten „voll ausgelastet“. „Über 32.000 Menschen werden vom LAF untergebracht, nur etwa 500 Plätze sind frei. In Tegel leben etwa 2500 Menschen in Leichtbauhallen“, sagte Sprecher Stefan Strauß. Vor gut drei Wochen hatte der Senat die Verlängerung der Nutzung des ehemaligen Flughafens Tegel als Notunterkunft für geflüchtete Menschen bis Ende Juni 2024 beschlossen. Dies garantiere „mittelfristige Planbarkeit“, sagte Strauß. (mit dpa)

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