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Sich einzubringen und aktiv zu werden, macht Kinder stärker. Ein Beispiel: In der Kika-Serie „Das Tierschutzteam“ besuchen Tyler Woods jr. und Verena Mau (beide 13) Tierschutz-Einrichtungen. 

© picture alliance / dpa/P0009

Psychologinnen im Interview: „Kinder sollen die Zukunft mitgestalten, weil es ihre Zukunft ist“

Pandemie, Kriege, Klimawandel: Junge Menschen wachsen in einer Welt multipler Krisen auf. Claudia Calvano und Celia Bähr über besorgniserregende Entwicklungen und Lösungsansätze.

Von Anne Kostrzewa

Frau Calvano, Frau Bähr, geht es Kindern und Jugendlichen heute schlechter als vor zehn oder zwanzig Jahren?

Claudia Calvano: Das ist empirisch schwer feststellbar, weil es keine direkten Vergleichsdaten gibt, die so weit zurückreichen. Was wir aber belegen können: Im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie ist die Belastung bei Kindern heute größer und ihre Lebensqualität niedriger.

Celia Bähr: Und heute ist das Bewusstsein viel größer, dass politische und gesellschaftliche Krisen auch Kinder betreffen und einen Einfluss auf ihr Leben haben.

Claudia Calvano: Das stimmt. Soziale Medien machen den Kindern zudem stärker bewusst, was passiert, als das früher die 20-Uhr-Nachrichten getan haben. Man ist emotional näher an den Krisen, sieht mehr Bilder, und viele Familien sprechen dadurch sicher auch im Alltag öfter über diese belastenden Themen.

Die Krisen, über die wir sprechen, wirken sehr unterschiedlich in den Alltag hinein. Die Pandemie war durch Homeschooling und Kontaktbeschränkungen unmittelbar spürbar. Die Kriege in der Ukraine und Nahost belasten und machen Angst, beeinflussen den Alltag der meisten Familien in Deutschland aber nur indirekt. Die Klimakrise ist zwar allgegenwärtig, aber mit ihren eher langfristigen Implikationen abstrakt.
Claudia Calvano: Jedes Abstraktionsniveau füttert andere Arten von Ängsten. Man kann sich das als Stress-Fass vorstellen, in das alle Krisen hineinwirken. Neben dem normalen, oft anstrengenden Familienalltag kommen je nach Situation andere akute Stressoren hinzu, etwa Krankheiten oder Geldsorgen. Das Stress-Fass jedes Menschen ist also durch andere Faktoren schon unterschiedlich gefüllt, und jeder hat andere Empfindlichkeiten.

Kommen dann zusätzliche Krisen hinzu, laufen einige Fässer schneller über als andere. Auch eher abstrakt anmutende Sorgen und Ängste belasten und tragen zu unserem Stresserleben bei.

Celia Bähr: Nicht jedes Stress-Fass wird für jede Person durch jede Krise gleich stark befüllt. Aber grundsätzlich kann man sagen, dass Krisen unsere Stress-Fässer zusätzlich füllen, natürlich auch bei Kindern. Wir können deshalb auch in der Forschung die anhaltenden, globalen Krisen nicht mehr ausblenden.

Was können Hinweise dafür sein, dass Kinder etwas belastet?
Claudia Calvano: Gerade bei jüngeren Kindern äußern sich psychische Belastungen oft unspezifisch. Sie ziehen sich vielleicht stärker zurück, weinen mehr, sind reizbarer oder schneller wütend. Oft kehren auch Verhaltensweisen zurück, die eigentlich überwunden schienen, wie Einnässen, Wutausbrüche oder Schlafstörungen. Bei Jugendlichen zeigen sich Belastungen wiederum etwas anders, zum Beispiel durch Rückzug oder Stimmungsschwankungen, durch Grübeln und Sorgen über die Zukunft.

Claudia Calvano ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie und leitet den Arbeitsbereich Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie.

© Joscha Kirchknopf

Wie reagieren Eltern darauf am besten?
Claudia Calvano: Sie können ihr Kind in einem ruhigen Moment darauf ansprechen, nachfragen, ob ihm etwas Sorgen oder Angst macht. Ob es beispielsweise etwas gehört hat, worüber es gern sprechen würde.

Celia Bähr: Bei Jugendlichen kann das für Eltern schon ein wenig schwieriger sein, weil sie in diesem Alter oft nicht mehr die Hauptbezugspersonen sind und teilweise vielleicht schwerer in Kontakt mit ihren Kindern kommen.

Claudia Calvano: In diesem Fall kann es sinnvoll, hilfreich und entlastend sein, mit anderen Eltern zu sprechen. Im Austausch miteinander können Eltern das Gefühl des Alleinseins abbauen. Ein nächster Schritt können Elternberatungsstellen sein. Geht es den Kindern sehr schlecht, kann eine psychologische Beratung helfen – wobei diese immer auch die Kooperation des Kindes voraussetzt.

Inwieweit sollte man Kinder vor belastenden Entwicklungen abschirmen, um sie nicht zu überfordern?
Celia Bähr: Ein Abschirmen ist im digitalen Zeitalter kaum möglich und führt bei Kindern schnell zu dem Gefühl, außen vor gelassen zu werden. Es geht doch um ihr Leben, die Welt, in der sie aufwachsen. Kindgerechte Nachrichten, Bücher und Comics können Kindern helfen, Ereignisse einzuordnen. Damit sie weniger Angst haben, hilft zudem ein partizipativer Ansatz: Kinder brauchen das Gefühl, der Welt nicht machtlos ausgeliefert zu sein, sondern selbst etwas bewegen und zum Besseren hin verändern zu können: Sie gestalten die Welt mit, in der sie leben.

Celia Bähr promoviert zu den Themen transdiagnostische Gruppeninterventionen und Jugendpartizipation in Forschung zu psychischer Gesundheit. 

© privat

Nutzen Sie diesen partizipativen Ansatz auch für Ihre Forschung?
Celia Bähr: Insbesondere bei Projekten, die sich mit Fragen der Geschlechtsidentität bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen, sowie Projekten zu rassismus­sensiblen Interventionen – also Interventionen, die die Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung mit den Kindern und Jugendlichen anerkennen, ansprechen und Unterstützung anbieten – arbeiten wir von Anfang an mit Jugendlichen und Ansprechpersonen aus der Praxis zusammen. Diesen Ansatz wollen wir auf jeden Fall ausbauen.

Vom kommenden Schuljahr an werden wir an unserem Arbeitsbereich einen Jugendbeirat für Kinder ab zehn Jahren einrichten. Das Beteiligungsgremium soll nicht projektgebunden sein, sondern langfristig bestehen und so unsere Forschung, Praxis und Lehre beeinflussen. Damit signalisieren wir, wie wichtig unserem Arbeitsbereich die Mitsprache der Kinder und Jugendlichen ist.

Wie soll das ganz konkret aussehen?
Claudia Calvano: Interessierte Kinder und Jugendliche dürfen sich bei uns melden und mitmachen. Etwa einmal im Monat treffen wir uns dann in einer kleinen Gruppe bei uns an der Uni in Dahlem und sprechen gemeinsam über aktuelle Forschungsthemen, über geplante und laufende Projekte.

Hier haben die Teilnehmenden Gelegenheit zu berichten, was sie bewegt, was ihnen Sorgen bereitet oder was sie in ihrer Welt verändern möchten – und vor allem aber auch uns zu sagen, ob wir ihre Themen und Lebenswelten in unseren Vorhaben widerspiegeln. Wir hoffen, dass sich Kinder und Jugendliche aus vielen verschiedenen Lebensrealitäten bei uns melden und mitmachen möchten.

Was erhoffen Sie sich wissenschaftlich vom Austausch mit Kindern?
Claudia Calvano: Wir wollen mit den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe kommunizieren und in einen kontinuierlichen Austausch treten. Der Jugendbeirat soll für uns eine zusätzliche Informationsquelle werden. Gleichzeitig sollen die Kinder eine Stimme und ein Mitbestimmungsrecht bei Forschungsfragen bekommen: Was beschäftigt sie? Was sollte deshalb für die Wissenschaft mehr Gewicht haben? Zu welchem Thema sollten Forschungsarbeiten entstehen? Sie bekommen im Jugendbeirat die Chance, Forschung aktiv mitzugestalten.

Warum ist Partizipation für Kinder und Jugendliche wichtig?
Claudia Calvano: Wir nehmen an, dass es die Selbstwirksamkeit und Ressourcen junger Menschen stärkt, wenn sie spüren: Was ich mache, hat einen Effekt.

Celia Bähr: Wie alle Menschen fühlen sich auch Kinder nicht gerne übergangen. Sie wollen gesehen, gehört und ernst genommen werden. Das kann unter anderem der Jugendbeirat ihnen ermöglichen. Sie sollen erfahren, dass sie nicht nur von ihrem Umfeld geprägt werden, sondern dass auch sie ihre Umgebung prägen, ihre Familie, ihre Schule, politisches Handeln und eben auch Forschung an der Uni. Kinder und Jugendliche sollen die Zukunft mitgestalten dürfen, weil es ihre Zukunft ist.

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