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Tigist Assefa (vorne 3.v.l.) lief am Sonntag Seit an Seit mit den besten Männern.

© picture alliance/dpa

Die Leistungsexplosion der Marathonläuferinnen: Den Männern auf den Fersen

Tigist Assefa läuft beim Berlin-Marathon in Bereiche, in denen sonst die erweiterte Männerspitze unterwegs ist. Wie ist das möglich?

Als Philipp Pflieger am Sonntag den Berlin-Marathon für den Sender Eurosport kommentieren sollte, blieb er für einen Moment still. „Ich muss jetzt erst einmal in mich gehen“, sagte er und tat das dann auch. Pflieger hatte soeben verfolgt, wie die Äthiopierin Tigist Assefa durchs Ziel lief – und das in einer Zeit von 2:11:53 Stunden. Um es einordnen zu können: Damit war sie mehr als zwei Minuten schneller als die bisherige Rekordhalterin Brigid Kosgeis (2:14:04 Stunden).

Eine derartige Steigerung hatte es zuletzt vor 40 Jahren gegeben (die US-Amerikanerin Joan Benoit verbesserte den Weltrekord von 2:25:29 auf 2:22:43 Stunden). Und überhaupt: Assefa lief in Sphären, in denen sich sonst nur Männer bewegen. Männer wie Philipp Pflieger.

Der 36-Jährige hat inzwischen seine Karriere beendet. Aber es ist noch gar nicht lange her, da war er der beste Deutsche auf der Langstrecke. Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 kam er als schnellster deutscher Athlet ins Ziel. Und seine Bestzeit von 2:12:15 Stunden, aufgestellt 2020 beim Valencia-Marathon, war zumindest im Bereich der erweiterten internationalen Spitze.

Seit Sonntag aber reicht seine Bestzeit nicht mal mehr, um mit der besten Frau mithalten zu können. „Es ist überhaupt nicht so, dass als Mann mein Ego darunter leidet, wenn eine Frau schneller ist als ich“, sagte Pflieger am Montag dem Tagesspiegel. „Im Gegenteil, ich freue mich, wenn Frauen durch solche Leistungen mehr Beachtung geschenkt bekommen.“ Die Zeit von Assefa bewertete Pflieger als „Quantensprung“.

Schon bei der Halbmarathon-Marke schluckten die ersten Beobachter, 66:20 Minuten brauchte Assefa dafür. Sie war – wie im Übrigen fünf weitere Läuferinnen zur Hälfte der Strecke – klar auf Weltrekordkurs. Die Frage war lediglich, ob sie das höllische Tempo würde weiterlaufen können. Und die Antwort fiel eindeutig aus: Assefa steigerte sich in der zweiten Hälfte sogar noch einmal, unglaubliche 65:33 Minuten benötigte sie für den zweiten Abschnitt.

Es gibt Anlass zur Skepsis

Leichtathletik-Beobachtern wie Pflieger verschlug es die Sprache. Der Lauf von Assefa ist bislang die herausragende sportliche Leistung des Jahres 2023. Doch wo Superlative sind, sind immer auch Zweifel. Das mag manches Mal ungerecht sein, die Unschuldsvermutung muss gelten. Doch die Leichtathletikhistorie mit all ihren Dopingfällen gibt bei solchen Leistungen Anlass zur Skepsis.

Zumal es ein paar Brüche in der sportlichen Laufbahn von Tigist Assefa gibt. Sie begann ihre Karriere über kürzere Distanzen, vor allem über 800 Meter. Als sie dann 2016 über diese Distanz bei den Olympischen Spielen im Vorlauf ausschied, hörte man lange nichts mehr von ihr. So lange, dass kaum einer mehr damit rechnete, dass die bislang eher mäßig reüssierende Läuferin noch einmal zurückkommen würde.

Die Lücke zwischen den Geschlechtern wird kleiner

Sie tat es dann zum ersten Mal fulminant beim Berlin-Marathon im vergangenen Jahr. In 2:15:37 Stunden lief sie bei ihrem zweiten Lauf über die Strecke als Siegerin ins Ziel. Danach hörte man zwölf Monate nicht viel von ihr, ehe sie die Fabelzeit am Sonntag hinlegte, mit der sie in den Achtzigerjahren den Lauf bei den Männern in manchen Jahren für sich entschieden hätte.

Der Lauf von Assefa war derart schnell, dass fast untergegangen wäre, dass ein gewisser Eliud Kipchoge die Konkurrenz der Männer gewann (übrigens in Kilometerzeiten, die im letzten Drittel der Strecke kaum schneller waren als jene von Assefa). Wegen ihrer geheimnisvollen Pausen fällt es schwer, Erklärungen für die Fabelzeit von Assefa zu finden. Man weiß zu wenig über die Läuferin.

Es ist überhaupt nicht so, dass als Mann mein Ego darunter leidet, wenn eine Frau schneller ist als ich.

Philipp Pflieger, ehemaliger Olympiateilnehmer im Marathon

Fakt aber ist, dass die Lücke zwischen Frauen und Männern im Marathon immer kleiner wird. Das hängt zum einen mit der Evolution der Disziplin ab. Lange war Frauen das Absolvieren der langen Strecke nicht zugetraut worden. Noch bis ins Jahr 1960 war die längste Strecke für Frauen bei Olympischen Spiele die über 800 Meter. Auch in den Jahren danach nahmen Frauen immer wieder heimlich an Marathons teil, weil es ihnen offiziell verboten war.

Erst 1984 durften Frauen erstmals bei Olympischen Spielen im Marathon starten. Und seitdem werden die Abstände zwischen den Geschlechtern geringer, derart gering, dass Läuferinnen wie Assefa männliche Kollegen überholen, die zur erweiterten Weltspitze im Marathon gehören.

„Beim Marathon trainierten Frauen lange vorsichtiger“, erzählt der frühere deutsche Top-Läufer Pflieger. „Inzwischen ist das nicht mehr so. Es ist krass, mit welchen Intensitäten Frauen inzwischen trainieren.“

Als einer der Gründe für Assefas Zeit werden auch immer wieder ihre Schuhe genannt, mit denen zum Beispiel auch Amanal Petros deutschen Rekord lief. Vermutlich aber handelt es sich hierbei eher um geschicktes und perfekt getimtes Sportmarketing als um eine bahnbrechende Innovation in der Schuhtechnologie. Tatsächlich aber ist die Entwicklung im Laufschuhsegment markenübergreifend enorm. Den kleiner werdenden Abstand zwischen Männern und Frauen erklärt dies jedoch nicht.

Erwähnenswert und ein weiterer Beleg für die Leistungssteigerung bei den Frauen im Marathon war der Lauf von Domenika Mayer. Die Deutsche gab erst im vergangenen Jahr ihr Debüt auf der Marathon-Strecke und am Sonntag, ihrem bislang vierten Marathon, lief sie in 2:23:47 Stunden die zweitbeste Zeit, die eine deutsche Athletin über die 42,195 Kilometer geschafft hat. Und das, obwohl sie ab Kilometer 21 Schmerzen im Fuß plagten. „Der Schmerz hat mich bis ins Ziel begleitet“, sagte sie dem Tagesspiegel. Wie sie sich ihre Steigerung erklären könne, durch die neue Schuh-Technologie im Laufsport-Bereich etwa? „Das glaube ich nicht“, sagt sie. „Sondern schlicht und einfach durch das Training.“

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