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Beherrscht von Angst. Demonstration der rechtsextremen Gruppierung „Freie Sachsen“ in Leipzig.

© Foto: dpa/Sebastian Willnow

Zum Tag der Deutschen Einheit: Der Osten wird noch immer anders gesehen

Die Vereinigung war keine unter Gleichen, nicht mal in ihrer Sehnsucht danach. Das zeigt sich nun mit Blick auf die multiplen Krisen unserer Zeit.

Ein Kommentar von Robert Ide

Neulich in Annaberg im Erzgebirge: Tausende sind auf der Straße, um für ihre Sehnsucht nach sicheren Zeiten zu demonstrieren. In den Reden wird Deutschlands Rückkehr zu russischem Gas gefordert. Dabei ist dies das Einzige, was im derzeitigen Zeitenumbruch sicher ist: Diese Rückkehr wird es wegen Russlands Militär- und Energiekrieg in Europa nicht mehr geben. In Ostdeutschland beharren trotzdem viele Menschen darauf.

Neulich in Brandenburg in der Mark: Hunderte sind auf der Straße, um ihre Wut über steigende Preise und wachsende Unsicherheiten zu zeigen. Organisiert von der örtlichen Linken marschieren auch die rechte Protestpartei AfD, rechtsoffene Querdenker und die rechtsextreme NPD mit. Im postulierten „heißen Herbst“ vor einem frostigen Winter bildet sich eine Front, von der Demokratiefeinde schon in der Corona-Krise geträumt hatten. In Ostdeutschland wehren sich trotzdem wenige Menschen dagegen.

Trotzdem kommt von Trotz. Gerade in Ostdeutschland speist er sich aus Angst vor der Zukunft – realen Sorgen wegen geringerer Löhne, Renten und Rücklagen. Und geschürten Sorgen wegen einer immer noch dünneren zivildemokratischen Schicht, die sich auf viele Jahrzehnte Diktaturerfahrung gelegt hat. Es ist auch eine Angst, die sich die Gesellschaft zwischen Ostsee und Erzgebirge noch nicht aus den Wendeklamotten geschüttelt hat.

Die Vereinigung war keine unter Gleichen, nicht mal in ihrer Sehnsucht danach.

Robert Ide

Warum ist der Osten immer noch so anders, mehr als drei Jahrzehnte nach dem friedlich verlaufenen Zeitenumbruch, nach der so lange ersehnten deutschen Einheit in Freiheit? Weil der Osten noch immer anders gesehen wird. Auch durch die eigenen Augen.

Die Vereinigung war keine unter Gleichen, nicht mal in ihrer Sehnsucht danach. Das zeigt sich nun mit Blick auf die multiplen Krisen unserer Zeit. Auf die (auch von der Linkspartei geschürte) DDR-Nostalgie als Reaktion auf harte Brüche nach der Einheit folgt eine (besonders von der AfD und von rechtsextremen Gruppen wie den „Freien Sachsen“ geschürte) Moskau-Nostalgie als Reaktion auf neue Zukunftsängste.

Der Freiheitskampf der Ukraine gerät dabei im post-sowjetisch sozialisierten Osten eher unter die Räder als im westorientiert sozialisierten Westen. Dabei müssten gerade die Ostdeutschen wissen, wie wichtig Freiheit zum Atmen ist. Und dass sie Frieden bringt.

Arbeitnehmer der Stahl- und Maschinenbau AG (Stamag) protestieren 1993 gegen ihre Abwicklung nach der Einheit.
Arbeitnehmer der Stahl- und Maschinenbau AG (Stamag) protestieren 1993 gegen ihre Abwicklung nach der Einheit.

© Foto: picture alliance/ZB/Waltraud Grubitzsch

Wie kann es überhaupt eine heimliche oder unheimliche Sympathie für das imperialistische Russland geben? Das ist eine der Sollbruchstellen, an denen sich auch deutsche Zerrissenheiten zeigen. Befördert wurde das von wichtigen politischen Akteuren wie Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die ihre Staatskanzlei in den Dienst von Gazprom stellte.

Oder von Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer (CDU), der ein Einfrieren des Krieges herbeizureden versucht, dessen Ausbruch er mit seiner Lobbyarbeit für den Kreml mitbegünstigt hat.

Ostdeutschland hat nicht nur in den Chefetagen deutscher Unternehmen ein Repräsentanzproblem. Sondern auch in der regionalen Politik, die allzu oft dem Populismus hinterherrennt anstatt für ein angegriffenes, demokratisches Land einzutreten, das für die gleichen Werte kämpft wie damals die friedlichen Revolutionäre auf den Straßen von Leipzig, Plauen und Ost-Berlin.

Resilienz in Zeitenumbrüchen – eigentlich haben Ostdeutsche das gelernt

Die Rückbesinnung auf die vor mehr als 30 Jahren friedlich erkämpften Werte, nicht nur Nostalgie für einstige Krim-Urlaube kann Ostdeutschland innerlich stärker und damit selbstbewusster machen. Und so selbstverständlicher zu einem Teil des geeinten Landes werden lassen.

Dafür muss allerdings auch der alte Westen mit neuen Augen auf den Osten sehen – nicht nur durch die Schockbrille. Angst und Trotz helfen in der Krise nicht weiter. Sondern Resilienz in Zeitenumbrüchen – eigentlich haben viele Ostdeutsche das schon aus eigener Erfahrung gelernt. Sie sollten diesen Mut wieder aktivieren.

Immerhin darin ist sich Deutschland einig: Der Tag der Deutschen Einheit wird auch im alten Westen eher pflichtschuldig registriert. Das hat ein Gutes: Deutschland ist als souveränes, demokratisches Land im Herzen Europas ziemlich schnell normal geworden – auch wenn es in den aktuellen Krisen noch immer seine Rolle sucht.

Innerlich vollzogen ist die Einheit noch immer nicht. Aber sie ist keine offene Frage mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit in einem noch immer reichen und reichhaltigen Land. Das zumindest darf alle freuen. Trotz allem anderen.

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