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Insgesamt 123 Tage hat die Wehrbeauftragte Eva Högl im Jahr 2023 bei der Bundeswehr verbracht.

© dpa/Sina Schuldt

Schrumpfende Truppe, desaströse Kasernen: So hart urteilt der neue Wehrbericht über die Zeitenwende

Die Wehrbeauftragte Eva Högl sieht nach gut zwei Jahren „Zeitenwende“ kaum echte Fortschritte bei der Bundeswehr. Das sind die sechs wichtigsten Erkenntnisse des neuen Jahresberichtes.

Sie hat sich bemüht, aber im Ergebnis ist es bisher einfach zu wenig – so lässt sich wohl zusammenfassen, was die Wehrbeauftragte des Bundestages auf den 175 Seiten ihres neuen Jahresberichtes über den rüstungspolitischen Kurswechsel der Bundesregierung schreibt.

„Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“, erklärte SPD-Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022.

Jedoch kommt seine Parteifreundin Eva Högl in ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht „nicht umhin festzuhalten, dass auch im zweiten Jahr der Zeitenwende substanzielle Verbesserungen bei Personal, Material und Infrastruktur auf sich warten lassen“. Zwar werde „mit Hochdruck daran gearbeitet, dass es besser wird“, sagte die Wehrbeauftragte in ihrer Pressekonferenz. Noch aber sind die Fortschritte laut Bericht „eher punktuell statt flächendeckend“.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse des Berichtes?

1 Unterbesetzte Truppe

„Die Truppe altert und schrumpft weiter“, stellt Högl gleich zu Beginn fest. Es ist also eher das Gegenteil von dem, was Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gefordert hat: mehr Personal, um wirklich verteidigungsbereit oder gar „kriegstüchtig“ zu werden.

Mit 181.514 Soldatinnen und Soldaten leisteten zum Ende des vergangenen Jahres 1537 weniger ihren Dienst bei der Bundeswehr als zwölf Monate zuvor. Zudem sind 17,6 Prozent aller mittleren und höheren Dienstposten unbesetzt. Besonders schwierig ist die Lage bei der Marine, wo 11.417 und damit lediglich 79 Prozent der Stellen besetzt sind.

Entsprechende Gegenmaßnahmen, die eine interne Arbeitsgruppe zur Personalgewinnung vorgeschlagen hat, wirken bislang noch nicht. Und auch die von 43.900 auf 43.200 leicht rückläufige Zahl von Bewerbungen nährt nicht gerade die Hoffnung auf eine schnelle Besserung.

Die Zahl der jungen Menschen, die freiwillig bereit sind, der Bundeswehr zu dienen, ist Umfragen zufolge durch die verschärfte Sicherheitslage in Europa stark gesunken.

Ähnlich wie Pistorius, der für eine neue Wehrpflicht plädiert, begrüßt Högl die Debatte über ein verpflichtendes „Gesellschaftsjahr“. Weil dies jedoch ein großer Eingriff in die individuelle Freiheit wäre, für den es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung bräuchte, will sie einen Bürgerrat im Bundestag damit befassen.

Zwar ist der Anteil derer, die im ersten Jahr ihres Dienstes diesen wieder quittiert haben, von 26 auf 21,5 Prozent gesunken. Aber die „Abbruchquote ist weiterhin sehr hoch“, schränkt Högl ein.

2 Unattraktive Bedingungen

Die hohe Zahl der Abbrecher hat mit dem zu tun, was Neue vor Ort vorfinden. „Die Infrastruktur ist vielerorts desaströs“, schreibt die Wehrbeauftragte: „Mich erreichen Schreiben von Eltern, deren Kinder soeben ihren Dienst angetreten haben – in Kasernen mit maroden Stuben, verschimmelten Duschen und verstopften Toiletten.“

Als „beschämend und dem Dienst unserer Soldatinnen und Soldaten völlig unangemessen“ werden auch sanierungsbedürftige Sporthallen und schlecht eingerichtete Truppenküchen bezeichnet. Dass es mancherorts immer noch kein WLAN gibt oder dafür bezahlt werden muss, kommt noch hinzu.

Im Bereich Infrastruktur ist die Zeitenwende bislang kaum zu spüren.

Aus dem Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl

Abhilfe ist bisher nur begrenzt in Sicht. Zwar versucht das Ministerium laut Högl Bauprojekte voranzutreiben, für die Umsetzung seien aber weiter „Jahrzehnte“ veranschlagt. Dies sei teils, so der Bericht, „auf die zögerliche Zuarbeit vieler der zu beteiligenden Bundes- und Landesbehörden zurückzuführen“. Alle Beteiligten „dürfen nicht länger zögern und verhindern“, lautet der Appell. In den fast 33.000 Bundeswehrgebäuden nämlich sei „die Zeitenwende bislang kaum zu spüren“.

3 Unterrepräsentierte Frauen

Für viele Frauen, deren Anteil einer neuen Vorgabe zufolge auf 20 Prozent steigen soll, aber mit 13,4 Prozent immer noch klar unter der alten Zielmarke von 15 Prozent liegt, wirkt der männlich dominierte Betrieb offenbar weiterhin abschreckend.

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Die Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind stark ausbaufähig, häufig folgt auf die Elternzeit ein Karriereknick. Högl lobt zwar, dass Rückkehrerinnen nun bevorzugt Dienstposten bekommen sollen. Kaum glauben könne sie jedoch, „dass Soldatinnen Uniformen und Schutzausrüstung immer noch nicht in passenden Größen oder annehmbaren Schnitten erhalten“.

Die erste Bataillonskommandeurin des Heeres oder die erste U-Boot-Kommandantin der Marine können auch, so der Bericht, nicht darüber „hinwegtäuschen“, dass Frauen auf der Spitzenebene nicht vertreten sind: „Soldatinnen in Führungspositionen jenseits der Besoldungsgruppe B7 gibt es keine.“

Hinzu kommt möglicherweise ein anderer Punkt: Die Zahl möglicher Sexualdelikte hat im vergangenen Jahr wieder zugenommen. Die Wehrbeauftragte vermeldet 385 meldepflichtige Ereignisse und 49 an sie gerichtete Eingaben – im Vorjahr waren es 357 beziehungsweise 34.

Högl wertet das als „einen erneuten Anstieg gegenüber den bereits hohen Zahlen der letzten Jahre“. Sie hofft nun, dass eine neue Dienstvorschrift zum Thema die Lage verbessert.

4 Überlastet von vielen Einsätzen

Die Bundeswehr hat im Herbst ihren Einsatz in Mali beendet, aber 2023 trotzdem mehr Kräfte als 2022 in Einsätzen gehabt. Dazu wird auch der Bereitschaftsdienst in der schnellen Nato-Eingreiftruppe gezählt. Die Zahl der Kräfte, die durch die Ausbildung ukrainischer Kollegen, in Litauen, an Patriot-Raketenabwehrstellungen in Polen und der Slowakei, aber auch in den verbliebenen Auslandsmissionen etwa im Irak gebunden waren, stieg von 21.100 auf 23.100.

In Kombination mit dem Nachwuchsmangel führt das zu einer enormen Belastung. „Wenn es zu wenig Personal gibt, müssen immer dieselben ran“, lautet Högls Befund. Von Überstunden im dreistelligen Bereich habe sie gehört und von immer neuen mehrmonatigen Einsätzen ohne Regenerationsphase zu Hause bei Freunden oder der Familie.

Regelrecht „bestraft“ fühlen sich laut Bericht besonders fähige Spezialisten – weil personelle Alternativen fehlen, werden sie häufig von einem Standort zum nächsten versetzt.

5 Nur die persönliche Ausrüstung ist schon da

Bei der Ausrüstung der Bundeswehr hat sich vergleichsweise am meisten getan. Nicht zuletzt die bereits im April 2022 bewilligten 2,4 Milliarden Euro für die persönliche Kampfbekleidung, gutes Schuhwerk, Helme, Schutzwesten oder Rucksäcke sind inzwischen bei der Truppe angekommen – und erzeugen laut Högl „leuchtende Augen“, aber auch ein Lagerungsproblem.

Neue Anschaffungen werden inzwischen sehr viel schneller als bisher auf den Weg gebracht. Mit dem Sondervermögen im Rücken erreichte 2023 eine Rekordzahl von Vorlagen den Bundestag. Högl verweist auch auf ein Gesetz von Ende 2022, mit dem die damalige Bagatellgrenze von 5000 Euro verzehnfacht wurde: Was vor Ort gebraucht wird, kann direkt von dort bestellt werden – ohne den langwierigen Umweg über das Koblenzer Beschaffungsamt.

Vieles ist zwar angestoßen, aber noch nicht wirklich angekommen in der Truppe. „Es mangelt an Material, vom Großgerät bis hin zu Ersatzteilen“, schreibt Högl. Und selbst wenn das Gerät eigentlich da ist, kann es wie die neuen digitalen Funksysteme nicht gleich genutzt werden, weil der Einbau nicht in allen Fahrzeugen möglich war.

Auch das „Handgeld“ unterliegt weiter Einschränkungen. So bekam Högl vom Mitglied einer Bootsbesatzung zu hören, dass er ein Standardersatzteil nicht in seinem Elektronikfachmarkt habe kaufen dürfen, sondern vielmehr Monate bis zur Lieferung habe warten müssen.

Die Digitalisierung in der Truppe bezeichnet Högl wegen mit der Post verschickter Gesundheitsakten oder Stundenzetteln in Excel-Tabellen, die „dreifach ausgedruckt und abgeheftet“ würden, wie einst Angela Merkel, als „Neuland“.

6 Perspektivisch unterfinanziert

Trotz des Sondervermögens hat sich gerade erst ein neues Loch im Wehretat aufgetan. Das hat auch damit zu tun, dass die laufenden Betriebskosten, die daraus nicht bezahlt werden können, massiv gestiegen sind. So verweist Högl darauf, dass allein die Energierechnung der Bundeswehr von 410 Millionen Euro im Jahr 2022 auf eine Milliarde Euro gestiegen ist.

Dazu, wie die Truppe finanziert werden soll, wenn der Zusatztopf von 100 Milliarden Euro leer ist, äußert sich Högl klar.

Aus ihrer Sicht muss „ein beständig steigender Wehretat“ das Ziel sein, um „Planungssicherheit“ für die Truppe zu haben: „Eine neuerlich beginnende Unterfinanzierung nach 2027 darf es nicht geben.“ Das ist indirekt ein Plädoyer für ein Aussetzen der Schuldenbremse.

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