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© Gestaltung: Tagesspiegel/Schneider | Adobe Stock, Getty Images, freepik

Fragen und Antworten zum Atomausstieg: Wie groß sind die Risiken des deutschen Alleingangs?

Trotz großer Bedenken steigt Deutschland am Wochenende aus der Atomkraft aus. Kann das gut gehen, und wie organisieren andere Staaten die Energiewende?

Eine Abschaltparty wird es im Atomkraftwerk Isar II am Samstag nicht geben. „Es sind keine Feierlichkeiten geplant“, sagt eine Sprecherin der Betreibergesellschaft auf Nachfrage. Die Schichtmannschaft werde wie jeden Tag zur Arbeit kommen und gegen 22 Uhr damit beginnen, gemäß Betriebshandbuch die Anlage herunterzufahren. Spätestens um Mitternacht wird das Kernkraftwerk dann vom Netz gehen – und das Kapitel der deutschen Atomkraft 63 Jahre nach der Inbetriebnahme des Versuchsatomkraftwerks in Kahl damit abgeschlossen.

Es wird wohl ein stiller Abschied von einer Technologie, die in Deutschland immer umstritten war, aber verlässlich Energie geliefert hat. 5600 Terawattstunden Strom haben die insgesamt 37 Atomkraftwerke in Deutschland bis Ende 2022 produziert – das entspricht etwa dem, was Deutschland in zehn Jahren an Strom benötigt. Dass nun mitten in der Energie- und Klimakrise die verbliebenen drei CO₂-armen Atomkraftwerke Isar II, Neckarwestheim II und Emsland vom Netz gehen, ist hoch umstritten. Mit dem Ende der Atomkraft bleiben viele Fragen.

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Wieso steigt Deutschland aus?

Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) skizziert in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel fünf Gründe für den Ausstieg. „Der Atomausstieg macht Deutschland sicherer“, schreibt sie und verweist auf die Reaktorkatastrophen in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Auch durch Flugzeugabstürze könne es zu nuklearen Unfällen kommen. „Wenn eine solche Katastrophe eintreten sollte, sind die Folgen und ihre Kosten ungleich verheerender als bei allen anderen Formen der Energiegewinnung“, sagt Lemke. Schon jetzt versichere keine Versicherung der Welt AKW-Unfälle.

Berücksichtigt man auch die Kosten für Uranabbau, Entsorgung und Versicherung, ist Atomstrom schon heute teuer.

Umweltministerin Steffi Lemke hält Atomkraft für zu teuer

Zudem werde das Thema Atommüll noch die kommenden 30.000 Generationen beschäftigen: „Das ist eigentlich unvorstellbar lange und es ist mir schleierhaft, wie man eine solche Technologie als nachhaltig einstufen möchte“, sagt Lemke. Sie hält die Atomkraft außerdem nicht für klimafreundlich, da sie viel Wasser zur Kühlung benötige – wegen Dürren und Hitzesommern werde dies immer mehr zum Problem.

Lemke hält Atomkraft außerdem für nicht günstig: „Berücksichtigt man auch die Kosten für Uranabbau, Entsorgung und Versicherung, ist Atomstrom schon heute teuer.“ In anderen Ländern zeige sich, wie die Kosten für neue Meiler explodieren würden. Zuletzt hält die Umweltministerin die AKW schlicht für überflüssig. „Es gibt bessere Alternativen“, sagt sie mit Verweis auf Solar- und Windanlagen. „Sie sind sicherer, nachhaltiger, klimafreundlicher und wirtschaftlicher als die Atomenergie.“

Ist die Energiesicherheit gewährleistet?

Für Wirtschaftsminister Robert Habeck besteht daran kein Zweifel: „Die Energieversorgungssicherheit in Deutschland ist und bleibt gewährleistet; sie ist auch im internationalen Vergleich weiterhin sehr hoch“, teilt der Grünen-Politiker am Donnerstag per Pressemittelung mit. Der Wirtschaftsminister stützt sich dabei unter anderem auf die Ergebnisse des Stresstests der Stromnetzbetreiber und den jüngsten Bericht der Bundesnetzagentur zur Versorgungssicherheit.

Umweltministerin Steffi Lemke und Energieminister Robert Habeck (beide Grüne) sind sich beim Atomausstieg einig.
Umweltministerin Steffi Lemke und Energieminister Robert Habeck (beide Grüne) sind sich beim Atomausstieg einig.

© Kay Nietfeld/dpa

Dort heißt es, man werde mit den gut gefüllten Gasspeichern, den neuen LNG-Terminals und der Reaktivierung der Kohlekraftwerke die Stromversorgung im nächsten Winter gewährleisten. Habeck will zudem neue Wasserstoffkraftwerke bauen, die aber zunächst ebenfalls mit Gas betrieben werden.

Auch mittelfristig ist man bei der Bundesnetzagentur optimistisch: „Die sichere Versorgung der Verbraucher gilt sowohl im Hinblick auf ausreichende Erzeugungskapazitäten als auch im Hinblick auf ausreichende Netzkapazitäten“, heißt es. Bis 2031 werde in jeder Stunde des Jahres die Last gedeckt werden. Sollten die Ausbauziele bei Wind- und Sonnenenergie erreicht werden, sei auch ein vorgezogener Kohleausstieg schon 2030 möglich.

Die Lichter werden nicht ausgehen.

Umweltökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum

Auch Experten rechnen nicht mit Blackouts, wenn nun die Atomkraftwerke abgeschalten werden, die zuletzt rund sechs Prozent des Energiebedarfs hierzulande deckten. „Die Lichter werden nicht ausgehen“, sagte der Umweltökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum. Man habe Reserven und werde durch den nächsten Winter kommen, sagte er der „Tagesschau“. Die Situation sei aber angespannt.

Vor allem bei Dunkelflaute - also wenn kein Wind weht und wenig Sonne scheint - muss Deutschland Strom importieren und Gas- und Kohlekraft verstärkt ans Netz nehmen. Ein Phänomen, das im kommenden Winter noch häufiger auftreten könnte.

Wie stark wird das Klima belastet?

Für den Energieexperten der CDU, Jens Spahn, ist die Ampel-Regierung zur „Kohle-Koalition“ verkommen. Der 15. April sei ein schwarzer Tag für den Klimaschutz in Deutschland. Tatsächlich hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr wegen der hohen Gaspreise alte Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt. Dadurch wurden allein im Jahr 2022 insgesamt 8,3 Prozent mehr Kohle verstromt als im Vorjahr.

494
Gramm CO₂ produzierte Deutschland 2022 pro Kilowattstunde erzeugten Strom.

Auch in der Ampel weiß man um die Vorteile der Atomkraft. Allein der Streckbetrieb der drei verbliebenen AKW hat laut Bundeswirtschaftsministerium bis Ende März 1,3 Millionen Tonnen CO₂ eingespart. 

Bei der Stromproduktion lösten sich 2022 die deutschen Klimaziele in Rauch auf. Pro Kilowattstunde erzeugte Deutschland im vergangenen Jahr 494 Gramm CO₂. Zum Vergleich: In Frankreich produziert eine Kilowattstunde nur 83 Gramm. Dorthin exportierte Deutschland jedoch massenhaft Strom, weil die dortigen Atomkraftwerke veraltet und störanfällig sind.

Wie stehen andere Länder zur Atomkraft?

In Europa geht Deutschland einen Sonderweg, über den viele den Kopf schütteln. Frankreich hat 56 Reaktoren, ein weiterer wird seit Jahrzehnten gebaut, Belgien hat den Atomausstieg um zehn Jahre verschoben. In den Niederlanden, Großbritannien und Schweden sind neue Reaktoren in Bau oder Planung, Polen hat jüngst angekündigt, in die Atomkraft einzusteigen, und plant, sechs AKW zu bauen.

Schwedens Energieministerin Ebba Busch setzt auf Atomkraft.
Schwedens Energieministerin Ebba Busch setzt auf Atomkraft.

© REUTERS / Reuters/TT News Agency

Die schwedische Energieministerin Ebba Busch, die Habeck jüngst in Stockholm besucht hat, rechtfertigt den Bau neuer Anlagen mit den Einsparungen von CO₂-Emissionen: „Die Frage des Klimaschutzes ist eine Schicksalsfrage“, sagte sie der ARD. Ihre Botschaft an die Welt: „Schweden ist auf Einkaufstour für neue Atomkraftwerke.“

Auch außerhalb von Europa setzen viele Staaten verstärkt auf Atomkraft. In den USA setzt Präsident Joe Biden auf moderne, kleinere Meiler. Auch Russland, Indien und Japan bauen neue Anlagen. Spitzenreiter im Ausbau ist China, wo momentan 17 neue Atomkraftwerke entstehen.

Wie schaltet man ein Atomkraftwerk ab?

Die ersten Schritte sind laut Uwe Stoll Routine. „Man reduziert langsam die Leistung der Kraftwerke, etwa ein Prozent pro Minute“, erklärt der Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Wenn die Leistung auf etwa 20 Prozent gesunken sei, werde die Anlage vom Netz genommen – ab diesem Moment fließe dann kein Strom mehr ins deutsche Netz. Dann komme der ominöse rote Knopf ins Spiel, der die Reaktorschnellabschaltung einleite. Alle Steuerstäbe würden dadurch in den Reaktor fallen, wodurch die Kernspaltung unterbrochen werde.

Uwe Stoll, der Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit
Uwe Stoll, der Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit

© GRS

Der Reaktor habe jedoch weiter eine Temperatur von knapp 300 Grad, weshalb er weiter gekühlt werden müsse. „Am Sonntag werden noch an allen drei AKW Dampfsäulen zu sehen sein“, sagt Stoll. So würden Temperatur und Druck langsam sinken. Bei etwa 50 Grad werde dann der Primärkreislauf mit Stickstoff gespült, dann der Reaktordeckel abmontiert, um alle Brennelemente in das Brennelemente-Lagerbecken zu überführen, wo sie weiter abgekühlt werden.

„So weit ist alles Routine“, sagt Stoll. Im Zuge der periodischen Sicherheitsprüfung würde dies regelmäßig in den Anlagen geschehen. Etwa zwei Wochen dauert dieser Prozess, dann beginnt der eigentliche Rückbau. Die Radioaktivität im Kühlkreislauf des Reaktors müsse nun chemisch reduziert werden. „Das klingt ganz einfach, kann aber nur von Spezialfirmen gemacht werden und dauert mehrere Wochen“, sagt Stoll.

Bis wir wieder die grüne Wiese erreicht haben, dauert es 15 bis 20 Jahren und kostet pro Anlage rund eine Milliarde Euro.

Uwe Stoll, Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit

Erst nach diesem Prozess kann mit der Zerlegung der vielen Tausend Kilometer Rohre und des rund 450 Tonnen schweren Reaktors begonnen werden – während gleichzeitig noch immer die Brennelemente gekühlt werden müssen. Diese können erst nach rund fünf Jahren in Castoren verladen werden. „Bis wir wieder die grüne Wiese erreicht haben, dauert es 15 bis 20 Jahren und kostet pro Anlage rund eine Milliarde Euro“, sagt Uwe Stoll. Ein Unterfangen, das bei 22 weiteren Reaktorblöcken ebenfalls noch nicht abgeschlossen ist.

Ist Deutschlands Entscheidung unumkehrbar?

Trotz aller Widerstände hält Wirtschaftsminister Habeck den Atomausstieg für „unumkehrbar“. Mit anderen politischen Mehrheiten könnte jedoch eine neue Rechtslage geschaffen werden. Für eine Genehmigung müssten sich alle drei Atomkraftwerke dann einer erneuten Sicherheitsprüfung unterziehen – nach modernen Standards.

Uwe Stoll hält die deutschen Meiler für die sichersten Anlagen der Welt – und hat dennoch Zweifel. „Aus technischer Sicht wäre ein Weiterbetrieb unserer Atomkraftwerke denkbar, aber die Diskussion über einen Reservebetrieb kommt ein Jahr zu spät“, sagt er. Vor allem Politiker von Union und FDP hatten sich in den vergangenen Tagen dagegen ausgesprochen, die Anlagen in der Energiekrise vom Netz zu nehmen. Die Liberalen hatten sich für einen einjährigen Reservebetrieb ausgesprochen.

Dafür seien die Voraussetzungen jedoch nicht gegeben, sagt Stoll. Im AKW Emsland und in Neckarwestheim seien die Brennstäbe vollständig aufgebraucht, im bayrischen Meiler Isar II könnten sie noch maximal zwei bis drei Monate Strom erzeugen.

„Selbst mit Priorisierung dauert die Beschaffung neuer Brennstäbe mindestens neun Monate. Zudem benötigen die Betreiber qualifiziertes Personal, das nach dem 15. April jedoch in den Ruhestand oder in andere Jobs wechselt“, sagte Stoll. So bleibt Fans der Atomkraft nur der Bau neuer Kraftwerke. Doch das scheint aktuell extrem unwahrscheinlich.

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