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Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.

© dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Exklusiv

Altbundespräsident Joachim Gauck: „Diese Nation ist nicht überlebensfähig, wenn wir auf Zuwanderung verzichten“

Die Deutschen sollten sich die Erfolge seit der Wiedervereinigung immer wieder vergegenwärtigen, sagt Ex-Bundespräsident Gauck. Eine Kultur des Verdrusses sei „keine gute Stimmungslage“.

Altbundespräsident Joachim Gauck hat den Erfolg der Ostdeutschen seit der staatlichen Einheit gewürdigt und ihnen Mut zugesprochen. „Ostdeutsche haben in den letzten 33 Jahren beeindruckend viel geschafft. Es ist unglaublich, wie die Mehrheit sich auf völlig neue Lebensverhältnisse eingestellt hat“ sagte Gauck am Mittwoch auf der Tagesspiegel-Konferenz „Der Osten. Chancen und Talente für Deutschland“. Daran nahmen mehr als 100 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft teil.

Sehen Sie die Tagesspiegel-Konferenz hier im Livestream:

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Gauck verwies darauf, dass Ostdeutschland im Jahre 1991 6,8 Prozent zur gesamtdeutschen Wirtschaftskraft beigetragen hatte. Im vorigen Jahr habe dieser Wert schon 11,8 Prozent betragen. „Wir müssen uns diese realen Erfolge öfter mal vergegenwärtigen“, sagte das frühere Staatsoberhaupt. „Aber dieser Aufholprozess ist bei Weitem nicht am Ende, auch der Anpassungsprozess nicht.“

„Die ostdeutschen Bundesländer sind keine armen oder hinterwäldlerischen Entwicklungsgebiete. Sie haben auch keinen minderen Charakter.“ Allerdings hätten sie andere Entwicklungsphasen in ihrem biologischen Dasein erlebt als im Westen, sagte Gauck, der von 2012 bis 2017 erster ostdeutscher Bundespräsident war.

Wichtig ist, dass wir uns das Erreichte als Erfolge vor Augen führen und nicht immer nur fragen: Warum so wenig? Warum so langsam?

Altbundespräsident Joachim Gauck über die Wiedervereinigung

Halb ernst, halb ironisch beschrieb Gauck die Mentalität der Deutschen in Ost und West. „Wir wissen ja, dass wir in einem Land leben, in dem die meisten Menschen das Glas beständig halb leer sehen statt halb voll. Das ist so mit uns. Wir würden uns auch gern ängstigen“, sagte Gauck: „Für manche gilt die Kultur eines gediegenen Verdrusses als deutsche Leitkultur. Zum guten Ton gehört es, sich nicht gut zu fühlen.“

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Dies sei „keine gute Stimmungslage für eine Nation, die Zukunft haben will“, sagte Gauck. Statt ewig diese Probleme vor sich herzutragen und laut zu deklamieren, wie unangenehm die Lebensverhältnisse sind, sollten die Deutschen „die eigene Geschichte vergegenwärtigen“.

Dieser Lernprozess der letzten 33 Jahre – wie Demokratie funktioniert, wie herausfordernd das ist, was die Marktwirtschaft bedeutet – sei ein Prozess, für den die Menschen im Westen kein Verständnis hatten. Weil sich für sie systemisch nichts verändert habe. Ostdeutsche hätten von 1933 bis 1989 in „politischer Ohnmacht“ gelebt, sagte Gauck. Für die Ostdeutschen gelte: „Wir haben ein anderes Spiel auf einem anderen Trainingsfeld gelernt als die Westdeutschen.“

Mit Blick auf das Erstarken des Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus sagte Gauck, in Zeiten von Krisen und Wandel gebe es ein Angstklima in der Gesellschaft. So sei es in ganz Europa. Die „Flucht nach Rechtsaußen“ heile aber nicht. Die radikal Rechten hätten „kein Zukunftskonzept, das einigermaßen glaub- und vertrauenswürdig wäre. Da gibt es Leute, die reden von einem Austritt aus der EU.“

Zum Thema Migrationspolitik sagte Gauck: „Diese Nation ist nicht überlebensfähig, wenn wir auf Zuwanderung verzichten würden. Wir sind ein Einwanderungsland und wir werden es bleiben.“ Deutschland müsse aber auch die hochkomplexe Frage beantworten: „Wie bleiben wir ein Einwanderungsland mit der Zustimmung der Mehrheiten für eine demokratische Politik?“

Wer in der Politik gestalten wolle, brauche Mehrheiten, sagte Gauck. „Wenn für eine Ein- und Zuwanderungspolitik keine Mehrheit vorhanden ist, dann kann man keine liberale und offene Gesellschaft gestalten.“ Wenn Politiker nun über das Steuern und Eingreifen in der Migrationspolitik nachdächten, dürften sie nicht gescholten oder ins politische Abseits gestellt werden.

Schwesig lobt Harbarth: „Die Demokratie, der Staat muss Sachen besser machen.“

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) mahnte eine stärker dialogorientierte politische Debatte in Deutschland an. „Wir haben zu wenig Gespräch, zu wenig Dialog, zu viel Konfrontation“, sagte Schwesig während der Tagesspiegel-Konferenz. Demokratie lebe vom Dialog.

„Unsere Demokratie ist gerade unter Druck“, sagte die SPD-Politikerin. Sie hob die Rede von Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in Hamburg hervor. „Die Demokratie, der Staat muss Sachen besser machen. Aber die Demokratie lebt auch von den Bürgerinnen und Bürgern“, sagte Schwesig.

Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik sagte Schwesig unter Verweis auf Aufnahmekapazitäten: „Wir kommen ganz praktisch an unsere Grenzen.“ Das Thema aber werde in Deutschland „zu konfrontativ und zu wenig lösungsorientiert“ diskutiert. Die Schweriner Regierungschefin verwies darauf, dass manche Probleme zuerst im Osten, erst danach im Westen aufträten. „Wir sollten nicht erst warten, bis die Probleme in Baden-Württemberg und Bayern ankommen, sondern schneller sein.“  

Transparenzhinweis: Die Veranstaltung wird unterstützt von enviaM, ORAFOL, Sächsische Agentur für Strukturentwicklung GmbH, Sparda-Bank Berlin, VBKI und dem Ostdeutschen Bankenverband.

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