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Verhandlung vor dem Fünften Senat des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen am Dienstag.

© REUTERS/ANDREAS KRANZ

Update

AfD gegen Verfassungsschutz vor Gericht: Remigration, einmal richtig verstanden

Im Prozess um ihre Einstufung als Verdachtsfall verteidigt die AfD umstrittene Äußerungen ihrer Politiker als zulässige Regierungskritik – im Namen des Grundgesetzes

Es ist eine lange Liste, die der Fünfte Senat des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Nordrhein-Westfalen am Morgen seiner Verhandlung vorlegt. Unter 21 Einzelpunkten will das Gericht ab Dienstag Klagen der AfD durchgehen, die die Partei und ihre Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA) gegen das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erhoben haben – und das, sagt der Vorsitzende Gerald Buck, muss nicht abschließend sein.

In drei Berufungsverfahren am OVG-Standort Münster geht es um die Einstufung der AfD und der JA als Verdachtsfall nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz (Az.: 5 A 1218/22, 5 A 1217/22) sowie den nach Parteiangaben aufgelösten „Flügel“, der als Verdachtsfall sowie als „gesichert extremistische Bestrebung“ bis Ende 2022 beobachtet wurde (5 A 1216/22).

Wir sind die Letzten, die hier einen Prozess verschleppen. Wir haben ein Interesse an Sachaufklärung.

Christian Conrad, Rechtsanwalt der AfD

Es ist ein aufwändiger Prozess, der auf großes Interesse stößt. Eigens für die Verhandlungstage wurde die OVG-Halle zum Gerichtssaal umgebaut.

In erster Instanz, beim Verwaltungsgericht Köln, blieben die Klagen im März 2022 überwiegend erfolglos. Den Urteilen zufolge war es wesentlich der völkisch-nationale Unterstrom in der Partei, der sie zur Gegnerin der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mache.

Die AfD will alles sehen, was der Verfassungsschutz gegen sie in der Hand hat

Die JA wird mittlerweile ebenfalls als „gesichert extremistisch“ geführt, einen Eilantrag dagegen wiesen die Kölner Richter im Februar zurück. Auch die AfD als Gesamtpartei soll laut Medienberichten so eingestuft werden, am Gutachten werde derzeit gearbeitet.

Im Prinzip wird daher bei der Gerichtsverhandlung nur Vergangenes aufgearbeitet – das Bundesamt ist wohl längst weiter. Auch in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wird die AfD bereits als „gesichert“-Fall behandelt. Für Christian Conrad von der Kanzlei Höcker, den Anwalt der AfD, liegt darin eine „rechtsstaatswidrige Informationsasymmetrie“, die auch das Verfahren in Münster beeinträchtige.

Er verlangt, alle aktuellen Gutachten der Verfassungsschützer zu den AfD-Einstufungen einzusehen. Die Partei müsse wissen, was gegen sie vorliege. Andernfalls werde gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstoßen.

Es ist nicht der einzige Antrag, den Conrad am Dienstag stellt. Das Gericht wird förmlich geflutet. Die AfD lehnt das Gericht einmal mehr erfolglos wegen Befangenheit ab.

Sie verlangt zudem Vertagung, weil sie ihrerseits geflutet werde: So habe das Kölner Bundesamt erst im Januar mehr als 4000 Seiten neues Material samt 116 Stunden Videos übermittelt – zu viel, meint Conrad, um es rechtzeitig zu den beiden angesetzten Verhandlungstagen am Dienstag und Mittwoch zu bearbeiten.

Das Gericht lehnt manches ab oder will später dazu entscheiden, doch so geht es weiter: Conrad konzentriert sich auf das sogenannte Folgegutachten und trägt vor, dass es – entgegen den offiziellen Angaben des Bundesamts – längst fertiggestellt sei.

Dies ergebe sich aus E-Mails des BfV aus dem vergangenen Jahr, die sich in den Prozessakten befänden. Dann stellt er eine lange Reihe von Beweisanträgen, dass Zeugen im BfV die Fertigstellung bestätigen würden, wenn man sie befragt.

Die AfD gibt sich hier betont unverdächtig: Die Zeugen aus dem Bundesamt würden schließlich erklären, dass die AfD herabgestuft werde und mittlerweile nicht einmal mehr ein Verdachtsfall sei. Eine Annahme, die taktische Gründe haben dürfte. Denn so wird der Eindruck erweckt, als würde das BfV den Klägern Entlastendes vorenthalten.

Das Gericht reagiert gelassen und kündigt an, sämtliche Anträge zu prüfen. Es gibt den AfD-Vertretern auch die Zeit, eine ausführliche Form dafür zu wählen – selbst wenn der Anwalt des Verfassungsschutzes das als Prozessverschleppung kritisiert.

Erst am Nachmittag schafft es das Gericht, tiefer in die Sache einzusteigen. Hier wird deutlich, dass sich das Bundesamt bei seinem Vorgehen tatsächlich erst orientieren musste. Dass der Verfassungsschutz sein Augenmerk auf eine Partei als solche richtet, ist neu in der Bundesrepublik. Erfahrungen gibt es nur mit Parteiverboten.

Was nicht verboten ist, muss zulässig sein, meint der AfD-Anwalt

So hält Anwalt Conrad der Behörde vor, die bisherigen gesetzlichen Grundlagen reichten nicht aus, um eine ganze Partei ins Visier zu nehmen; die Stufenfolge sei eine amtliche Erfindung, eine Partei dürfe legitimerweise sogar „verfassungsfeindlich“ und trotzdem politisch tätig sein. Erst wenn eine Partei nach Maßstab des Grundgesetzes verfassungswidrig sei, dürfe der Staat mit dem Parteiverbot in den politischen Wettbewerb eingreifen.

Ansonsten gelte Meinungsfreiheit: Eine danach zulässige, nicht strafbare Äußerung könne nie als Beleg für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung herangezogen werden. Conrad weist auch auf die Möglichkeiten hin, einen Begriff wie „Remigration“ auf unterschiedliche Weise zu verstehen. Das BfV entscheide sich immer nur für die Art, die ihr als einschlägig erscheine.

Das ist keine Kritik an der Regierung, sondern richtet sich gegen die Verfassungsordnung selbst.

Wolfgang Roth, Anwalt des Verfassungsschutzes, über bestimmte Äußerungen aus der AfD

Das sieht das Bundesamt naturgemäß anders und verweist auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts, aus denen sich die Befugnisse für die Einstufungen ergäben. Nach Lesart von BfV-Anwalt Wolfgang Roth ist das Amt eine vorgeschaltete Institution, die Parteien wie jede andere Form von Personenzusammenschlüssen unter die Lupe nehmen darf – und wenn einzelne Protagonisten sich gegen Grundprinzipien der Verfassung wendeten, dies auch der Partei als ganzer zugerechnet werden kann.

Regierungskritik sei möglich, doch wenn ein „Maß von Verunglimpfung“ erreicht sei, das den Eindruck erwecke, das System als solches sei unfähig, die Probleme zu lösen, sei die Grenze erreicht, sagt Anwalt Roth. „Das ist keine Kritik an der Regierung, sondern richtet sich gegen die Verfassungsordnung selbst.“

Das Gericht kann sich die Zeit nehmen, die es braucht

Für die AfD geht es in Münster zwar noch nicht um ihre Existenz, aber um ihren Status als demokratische Partei, als die sie sich selbst sieht. Die Einstufung ist daher mehr als eine Formalie.

Sie eröffnet dem BfV außerdem die Möglichkeit, geheimdienstliche Mittel einzusetzen, etwa die Abschöpfung von Informationen durch sogenannte V-Leute. Mit der weiteren Heraufstufung wird dieser Einsatz erleichtert. Hauptziel aber ist die Öffentlichkeit. Sie soll über verfassungswidrige Bestrebungen und Zusammenschlüsse Kenntnis erhalten, so sieht es das Verfassungsschutzgesetz vor.

Nicht nur der Verfassungsschutz erwartet, dass die Berufungsklagen abgewiesen werden. Das Folgegutachten, für das die Beamten nach eigener Auskunft vor Gericht das OVG-Urteil abwarten und einarbeiten wollen, scheint zumindest weit fortgeschritten zu sein. Dass es für die AfD günstig wird, glaubt nicht einmal die Partei, obwohl ihr Anwalt anders redet.

Tausenden Quellen, aber nur zwei Belege sollen von V-Leuten des Verfassungsschutzes stammen

Da auch dieses Gutachten mit einer umfangreichen Materialsammlung unterfüttert werden wird, verfügt das BfV wohl schon gegenwärtig über genug Belege, um die AfD als „erwiesen extremistisch“ einzustufen. Das Verfahren in Münster wird davon nicht berührt. Das Gericht kann sich die Zeit nehmen, die es für seine Fälle braucht.

Am Abend geht es noch um die sogenannte Staatsfreiheit. Sind in der AfD V-Leute für den Verfassungsschutz aktiv? Der erste Anlauf für ein NPD-Parteiverbot war daran gescheitert. Das BfV dürfte vorsichtiger geworden sein: In den bisher mehreren tausend Belegen für verfassungswidrige Bestrebungen seien nur zwei auf menschliche Quellen des Verfassungsschutzes zurückzuführen, versichert das BfV dem Gericht. Eine steuernde Funktion hätten diese Quellen in der Partei nie gehabt.

Am Mittwoch wird der Prozess fortgesetzt. Ob es dann ein Urteil gibt, ist offen. Die AfD kündigte Beweisanträge an, deren gerichtliche Protokollierung 25 Stunden dauern soll.

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