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Das SPD-Führungsduo Klingbeil und Saskia Esken mit Bundeskanzler Scholz und Partei-Generalsekretär Kühnert im November 2022.

© dpa/Christophe Gateau

Keine Ausflüge ins Luftreich der Träume mehr: Die SPD ist ausgeglichen, friedlich – und langweilig

Die Sozialdemokraten können stolz sein auf Vieles in ihrer Geschichte. In der Gegenwart fehlt dieser Stolz – und neben allem Pragmatismus brauchen sie etwas Optimistisches, was darüber hinausgeht. 

Ein Kommentar von Daniel Friedrich Sturm

Ihr größtes Geschenk nahm die SPD bereits vor über einem Jahr entgegen: Mit Olaf Scholz stellt sie seither wieder den Bundeskanzler. Am Dienstag nun, zu ihrem 160. Geburtstag, hält dieser Kanzler im Willy-Brandt-Haus eine Festrede. Wer hätte das gedacht?

Am 23. Mai 1863 gründete sich in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein. Jener ADAV mündete nach Wandlungen, Spaltungen und internen Konflikten in der SPD. Seit 1890 heißt sie so, und musste, wie sie in der Partei gern betonen, niemals ihren Namen ändern.

Stolz auf ihre Geschichte zeigen sich die Sozialdemokraten gern. Die SPD sieht sich als Grundpfeiler der Demokratie in Deutschland, zu Recht. Die Sozialdemokraten führten die Arbeiter in die Demokratie. Sie setzten dabei, nach allerhand Debatten, auf Reform statt Revolution.

Während die Konservativen Nationalismus zum Rezept gegen alle Übel machten, forderte die SPD 1925 die „Vereinigten Staaten von Europa“. Die SPD stimmte geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz. Sie baute das Land nach Kriegsende mit auf, machte ihren Frieden mit Westbindung und sozialer Marktwirtschaft, entwickelte die Ostpolitik.

Vor allem aber schuf und organisierte die SPD in den 1960er und 1970er Jahren sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt. Das war, verkörpert durch den Charismatiker Willy Brandt, eine Zeit des Aufbruchs. Die SPD riss die Fenster auf, lüftete das Land durch, zumindest seinen westlichen Teil.        

Konspirative Gespräche 1965: Willy Brandt und Helmut Schmidt, der damals noch Hamburger Innensenator war.

© dpa/Kurt Rohwedder

Einst hatte der einflussreiche Theoretiker Karl Kautsky den Parteifreunden aus dem „Kapital“ vorgelesen, Marxschen Radikalismus propagiert und sich in Wunschdenken ergangen. Sein Gegenspieler Eduard Bernstein rang für demokratische Mitsprache der Arbeiter, kämpfte für den Acht-Stunden-Arbeitstag mit Kaffeepause und beklagte „Utopisterei“.

Dieser Konflikt zwischen Dogmatismus und Reformen hat die SPD geprägt. Gegründet gegen die herrschenden Verhältnisse und lange in die Opposition verbannt, besaß die deutsche Linke stets einen utopischen Überschuss. Der Wunsch, regieren zu wollen, wurde oft verdammt als Mangel an Prinzipientreue. Große Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert oder Helmut Schmidt galten als gewissenlose Modernisierer, Reformer, Macher.

Ausgeglichen, friedlich – und langweilig

Vor dem Hintergrund dieser Tradition wirkt die Dauer-Regierungspartei SPD im Mai 2023 ausgeglichen, friedlich – und langweilig. Wo bloß ist der utopische Überschuss geblieben? Wo sind die einst beliebten Ausflüge ins Luftreich der Träume?

Angesichts eines Kanzlers, der mehr Staatsnotar als Führungsfigur ist, verkümmert der Charakter als Programmpartei. Lange war die SPD keine pragmatische, sondern vor allem eine streitende Partei. Mit Scholz, Saskia Esken und Lars Klingbeil ist die SPD pragmatisch geworden. Vielleicht zu pragmatisch?

„Wandel durch Anbiederung“

Der Stolz der SPD auf ihre eigene Geschichte dient der Selbstvergewisserung. Doch wie steht es mit dem schwersten politischen Irrtum der jüngsten Zeit? In der Außenpolitik hat sich die Sozialdemokratie nach einem zunächst klugen und erfolgreichen Kurs vollkommen verirrt.

Schon in den 1980er Jahren verbog sie Brandts Verständigung mit dem Osten zu einer Nebenaußenpolitik, die die Freiheit von Ostdeutschen und den anderen Europäern hinter dem Eisernen Vorhang geringschätzte. Der „Wandel durch Annäherung“ wurde gegenüber den kommunistischen Diktaturen zum „Wandel durch Anbiederung“. Gerhard Schröder gefiel das.  

Dies führte zu der etatistischen Außen- und Energiepolitik der SPD in der Regierung Merkel. Die Ignoranz gegenüber Polen, Esten, Ukrainern und vielen anderen Völkern fußte auf der krassen Fehleinschätzung, Kritik am Kreml dürfe man sich nicht erlauben. Die „Realisten“, wie sie sich im Auswärtigen Amt selbst sahen, waren in Wahrheit naiv. Diese Politik war unsensibel, denkfaul und machtsatt. Der Preis dafür, ein Krieg in Europa, könnte höher kaum sein. Für die SPD ist das eine bittere Erkenntnis.

Diese Fehleinschätzungen zeigen, dass die SPD ein Programm jenseits des Regierens entwickeln muss. Wozu will sie regieren? Mehr denn je braucht sie Konzepte, mit denen sie Zuversicht für die Zukunft wecken, sich selbst begeistern kann. Sie darf dafür auch über scheinbar verwegene Vorstellungen streiten und, ja, mehr Visionen wagen.

Pragmatismus und das Kanzleramt, das mag der CDU genügen. Für die SPD ist das eindeutig zu wenig. 

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