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Das Minarett der al-Nuri-Moschee in der irakischen Stadt Mossul soll nach Angaben der Unesco im Lauf des Jahres 2024 wiederaufgebaut sein.

© Konstantin Klein

Nach dem Krieg: Wie aus Erinnerungen ein Stadtplan entsteht

Bei einer Projektwoche mit irakischen Studierenden entwickelte sich die Idee für eine interaktive Karte der zerstörten Stadt Mossul.

Von Emilia Groß

Ich bin mir nicht sicher, ob das hier dazu passt“, meldet sich schüchtern M., Student an der Universität Mossul im Irak. Er und seine Kommilitoninnen und Kommilitonen, eine Gruppe von Masterstudierenden verschiedenster Fächer, belegen einen Zusatzkurs im Rahmen einer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderten Studierendentagung. Arabistik-Professorin Isabel Toral von der Freien Universität Berlin und Konstantin Klein, Geschichtsprofessor an der Universität Amsterdam, horchen auf. Sie unterrichten seit zwei Tagen in Mossul über antike und mittelalterliche Metropolen im Nahen Osten – eigentlich soll es um umwelthistorische und stadtgeschichtliche Interpretationsansätze gehen. Doch die Diskussionen mit den irakischen Studierenden drehen sich immer wieder um Themen wie Zerstörung, Ruinen, Wiederaufbau und Erinnerungskultur. Zu diesen Themen haben Toral und Klein selbst viel geforscht.

Die Dozierenden bitten die Teilnehmenden, Erinnerungsorte in Mossul zu benennen und im Unterricht vorzustellen. Es soll gerade nicht um jene Monumente gehen, die den Unesco-Welterbe-Status der jahrtausendealten Stadt am Tigris begründeten und im Zuge der Besetzung durch den „Islamischen Staat“ zerstört worden sind. Die Aufgabe, Erinnerungsorte jenseits der kunsthistorisch bedeutsamen Bauwerke zu finden, erweist sich allerdings zunächst als schwierig.

Dreimal wird von den Teilnehmenden die berühmte al-Nuri-Moschee aus dem 12. Jahrhundert genannt – einschließlich genauer Datierung und der exakten Höhe ihres schiefen Minaretts al-Hadbah – „das Bucklige“. Dieser Ort ist in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte eingeschrieben: Im Juli 2014 hatte dort der selbsternannte Kalif des „Islamischen Staats“, Abubakr al-Baghdadi, seine erste und einzige öffentliche Freitagspredigt gehalten, beim Rückzug aus Mossul sprengten die Milizen des „Islamischen Staats“ den Bau.

Kaum eine Stadt hat in der jüngsten Vergangenheit solch massive Zerstörungen erlitten wie Mossul. Das Stadtbild im historischen Zentrum wurde in der Zeit zwischen 2014 und 2017 fast vollständig zerstört. Zahlreiche Hilfsorganisationen bemühen sich um die Rekonstruktion bedeutender Monumente wie die Moscheen und Kirchen der Stadt. Es wird auch daran gearbeitet, das buckelige Minarett wiederaufzubauen.

Fast vollständig zerstörte Stadt

Weltkulturerbe sicherlich – aber ist es auch ein persönlicher Erinnerungsort? Im Hörsaal blicken die Studierenden auf M., der auf Fotos vom zerstörten Haus seiner Großmutter zeigt: ein für die Region typisches Hofhaus aus dem 19. Jahrhundert, das vor seiner Zerstörung eindrucksvoll gewesen sein muss. Gusseiserne, verschnörkelte Geländer ragen aus den Trümmern einer Freitreppe, ein hölzerner Fensterrahmen hier, dort ein Haufen Tonziegel. „Das war der riesige Ofen, in dem meine Oma immer, wenn wir zu Besuch waren, Brot für alle gebacken hat.“ Es wird still, denn allen ist bewusst, dass keine ausländische Hilfsorganisation dieses Haus wiederaufbauen wird.

Mit ihren skizzierten Erinnerungen tragen die Studierenden zu einem ideellen Wiederaufbau der jahrtausendealten Stadt bei.

© Konstantin Klein

Die Studentin, die neben M. sitzt, sucht etwas im Browser ihres Smartphones: „Das hier war die Najafi-Straße, dort waren die Buchhandlungen“, sagt sie. In den folgenden zwei Stunden teilen die Studierenden ihre Erinnerungen an bestimmte Orte. Ein Teilnehmer erinnert sich an die Hammerschläge der Eisenschmiede, eine Studentin berichtet von den Gerüchen auf dem Gewürzmarkt, die sie so vermisse. – „Aber nein“, meint eine Kommilitonin, „da hat es doch nicht nach Nelken, sondern nach Kardamom gerochen!“ „Ist das nicht egal, kann denn nicht beides richtig sein?“, fragt einer aus der Gruppe – obwohl doch anfangs vor allem die präzise Angabe der Höhe des Minaretts mit 45,2 Metern wichtig erschien.

Die eigentliche Erinnerungsarbeit ist zwar das primäre Ziel, doch möchten die Studierenden durchaus Menschen in aller Welt erreichen, denen sie ‚ihre‘ Stadt zeigen können.

Isabel Toral, Professorin am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität

Isabel Toral und Konstantin Klein unterrichten den Workshop auf einer von der Dortmunder und Grazer Initiative RESI (Rethink Science and Education in Iraq) organisierten Veranstaltung: Ungefähr 30 Dozierende verschiedener europäischer Universitäten und irakische Kolleginnen und Kollegen bieten eine Woche lang rund 50 Workshops für etwa 1000 irakische Masterstudierende an. Am letzten Tag der Projektwoche ist ein Wettbewerb mit Präsentationen der Workshops geplant.

Die Gruppe von Konstantin Klein und Isabel Toral vollzieht in ihrer Präsentation die Wende im Seminar nach. Es werden Buntstifte, Scheren und Kleber gezückt: „Die Studierenden sollten Teile des Stadtplans von Mossul aufzeichnen – aber bewusst nicht unbedingt maßstabsgetreu und kartografisch exakt, sondern so, wie sie sich an ihre Stadt erinnern. In einem zweiten Schritt konnten sie ihre eigenen Erinnerungen an bestimmte Ecken, Straßenzüge oder Gebäude ‚anheften‘,“ erklärt Klein. „Schritt für Schritt formierte sich durch diese Verräumlichung eine Erinnerungslandkarte“, erläutert Toral. „Auf dieser Karte standen Orte der persönlichen Erinnerung gleichbedeutend neben den berühmten mittelalterlichen Monumenten.

Eine interaktive Karte entsteht

Die Studierenden erhalten für die Präsentation einen der beiden Hauptpreise. Die Preisverleihung ist dabei nur der Anfang der Erinnerungslandkarten. Die Gerda Henkel Stiftung bewilligte das von Toral und Klein zur Förderung eingereichte Projekt „Memory Spaces: Mapping Oral History in Mosul“, das am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin angesiedelt ist. „Dank der Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung können wir gemeinsam mit den Studierenden das Projekt der Erinnerungslandkarten als interaktive Internetseite auf den Weg bringen“, erläutert Klein.

Heutige und frühere Einwohnerinnen und Einwohner von Mossul können auf einem digitalen Stadtplan, auf dem der Zustand der Stadt vor 2014 dargestellt ist, Text-, Ton-, Video- und Bilddokumente einstellen. Diese werden von einem studentischen Team aus Mossul kuratiert, aufbereitet und übersetzt. „Uns ist es wichtig, dass diese wichtigen Ego-Dokumente sowohl auf Arabisch oder Kurdisch wie auch auf Englisch vorliegen“, berichtet Toral. „Die eigentliche Erinnerungsarbeit ist zwar das primäre Ziel, doch möchten die Studierenden durchaus Menschen in aller Welt erreichen, denen sie ‚ihre‘ Stadt zeigen können.“

Eine Zusammenarbeit zwischen den Universitäten in Berlin, Amsterdam und Mossul ist mit dem Pilotprojekt angebahnt. Das Team um Toral und Klein war inzwischen zusammen mit Marwa A. Ahmed, Mitarbeiterin der Arabistik unter der Leitung von Professorin Beatrice Gründler, wieder im Irak, um sich mit Fachleuten auszutauschen und das Projekt voranzubringen.

Zeit war auch für einen erneuten Besuch der al-Nuri-Moschee mit ihrem schiefen Minarett: Dieses soll Unesco-Berichten zufolge im Laufe des Jahres 2024 wiederaufgebaut sein. „Bei den Erinnerungsorten ,unserer‘ Studierender wird es vermutlich ein wenig länger dauern“, sagt Isabel Toral, „doch hoffen wir, mit ‚Memory Spaces‘ in einer anderen Weise zum Wiederaufbau von Mossul beitragen zu können.“

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