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Nürnberg, gerüstet für den Kirchentag.

© dpa/Daniel Karmann

Zeitansage auf dem Evangelischen Kirchentag: Wer den Glauben stärken will, darf ihn nicht verstecken

Nürnberg als Ort der Hoffnung: 100.000 Gläubige werden erwartet, um in diesen unruhigen Zeiten voller Krisen Zusammenhalt zu erleben und Orientierung zu erfahren. Wehe, wenn nicht.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Mehr als 100.000 Menschen kommen bis Sonntag zusammen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, dem 38. und ersten in Präsenz nach Corona – das ist doch schon eine frohe Botschaft. Aber bleibt sie vielleicht die einzige?

Ein Wohlgefühl soll ausgehen von diesem „größten zivilgesellschaftlichen Begegnungsereignis“ in unserem Land. Nur fühlen sich beileibe nicht mehr viele wohl, nicht in der Kirche, nicht in der Gesellschaft.

Warum? Weil die großen aktuellen Themen dieser Zeit so sind: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die Sorgen ums Klima, die Inflation, gesellschaftliche Spaltung, Polarisierungen in den Debatten, Extremismus. Und weil die Kirche mit sich und um Antworten ringt.

19,1
Millionen Protestanten gibt es noch in Deutschland.

Hier passt das Motto: „Jetzt ist die Zeit“. Noch klarer wäre vielleicht: Zeit wird‘s – nämlich, Rechenschaft abzulegen über das Getane und das zu Tuende. Und zwar vor sich, vor der Institution Kirche und dem, an den zu glauben noch 19,1 Millionen Protestanten vorgeben.

Wie schön wäre es da, wenn der frühere christdemokratische Bundesminister und Kirchentagspräsident Thomas de Maizière recht hätte, dass der Kirchentag eine Plattform zum Austausch von Meinungen wäre und keine Meinungen auferlegte. Allein, ganz so ist auch das nicht. Denn mindestens wirkt es, als würden Meinungen nahegelegt.

Ein Beispiel: Die – pazifistische – Martin-Niemöller-Stiftung kritisiert, dass der Kirchentag „friedensethisch vorfestgelegt“ sei. Sie macht das daran fest, dass eine friedenspolitische Veranstaltung mit der noch immer überaus beliebten und streitbaren früheren EKD-Vorsitzenden Margot Käßmann nicht zustande kommt.

Weil Käßmann einen Waffenstillstand in der Ukraine fordert und sich gegen deutsche Waffenlieferungen an Kiew wendet? De Maizière, früher Verteidigungsminister, vertritt eine andere Meinung.

Nun, der Stachel sitzt. Jetzt wird noch genauer beobachtet, ob das Thema dennoch wirklich wie versprochen streitig diskutiert werden wird. Das auch im Angesicht der Politik. Gut so.

Der Wunsch nach Zusammenhalt wächst

Wo wir alle gerade eine Krise nach der anderen durchleben, wächst der Wunsch nach Zusammenhalt. Der kann auch die Politik erfassen, warum nicht? Menschen, die sie sind. Die Suche nach Hoffnung beseelt immer mehr im Land. Und Hoffnung zu spenden – darin liegt auch ein Auftrag des Kirchentags. Der macht vor Parteigrenzen nicht halt.

Die Zeichen der Zeit sind ja doch so: Entkirchlichte Landschaften und entvölkerte Kirchen zwingen zur Selbstvergewisserung. Neue Wege findet nur, wer das als Auftrag erkennt und annimmt. Auch, aber nicht vor allem politisch.

Damit ist der Kirchentag zurück bei den Fragen, die in die Welt ragen. Wie Gerechtigkeit zwischen den Generationen schaffen; die soziale Arbeit sichern, die Arbeit in Kindergärten und in Schulen; wie die kirchliche Friedensarbeit stärken? Das ist biblischer Auftrag und gesellschaftliche Erwartung zugleich.

Christen müssen deutlich sagen, wovon sie leben und wofür sie stehen. Mutiger als bisher. 

Stephan-Andreas Casdorff, Herausgeber des Tagesspiegels

Vor dem Hintergrund, übrigens, ist es ein schweres Versäumnis, das Thema Missbrauch nicht offensiv anzugehen. Wo, wenn nicht auf dieser Veranstaltung, die alle zusammenbringt, Laien, Seelsorger, Politik. Selbstvergewisserung ist schwierig. Selbsterforschung kann weh tun.

Jetzt ist die Zeit … Wo komme ich her. Wo gehe ich hin. Wer bin ich. Was ist der Sinn des Lebens – keine Angst vor den großen Fragen. Richtig ist: Christen müssen deutlich sagen, wovon sie leben und wofür sie stehen. Mutiger als bisher. Wer den Glauben stärken will, darf ihn nicht verstecken.

Der Glaube ist umso wichtiger in einer Zeit, in der die Menschen merken, „wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind und an wie vielen Stellen wir nicht mehr wissen, wie es weitergeht“. Sagt die Ratsvorsitzende Annette Kurschus.

Und außerdem: „Jetzt ist die Zeit, mutige Aufbrüche zu wagen. Auch und gerade in der Kirche.“ Das wird schwierig. Die Zahl der Ortsgemeinden sinkt mit der Zahl der Gläubigen. Die Entwicklung ist dramatisch. Beide großen Kirchen, die evangelische und die katholische, müssen reagieren. Organisatorisch – und auch, indem die Kirchen als Zeitansage allen auf ihrer „Plattform“ bewusst machen, was es heißt, Christ zu sein.

Glaube lehrt Demut. Das bedeutet: Einsicht in die Notwendigkeit – ohne den Mut zu verlieren. In dieser Gewissheit zu leben und sie zu vermitteln, ist die Chance des Kirchentags. Das ist dann doch auch eine ziemlich frohe Botschaft.

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