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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

© dpa/Uli Deck

Karlsruher Urteil zum Wahlrecht: Die kleine Revolution bleibt aus – leider

Der Mehrheit der Richter hat der Mut gefehlt. Das Minderheitenvotum aber ist zur Lektüre empfohlen. Vor allem den Abgeordneten im Deutschen Bundestag.

Ein Kommentar von Albert Funk

Die kleine Revolution ist ausgeblieben. Es hat sich keine Mehrheit dafür gefunden. Fünf der Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts haben mit einem rein juristisch sicherlich begründbaren Spruch dafür gesorgt, dass der Bundestag bei Wahlrechtsreformen auch weiterhin nicht darauf achten muss, ob die Wahlberechtigten auch alles kapieren können in dem Verfahren, wie die Sitze im Parlament besetzt werden.

Das bedeutet, dass das etwas verquast formulierte Wahlgesetz der Koalition von Union und SPD aus dem Jahr 2020 samt der daraus folgenden irrwitzigen Aufblähung des Bundestags auf 736 Abgeordnete seine Ordnung gehabt hat. Zudem kann in der Hauptstadt Berlin die Wiederholungswahl demnächst nach diesem Wahlgesetz stattfinden.

Drittens muss sich die Ampelkoalition jetzt wohl keine Sorgen mehr machen, dass ihre Wahlrechtsreform aus dem Frühjahr wegen möglicher Unverständlichkeit des Sitzzuteilungsvorgangs in dem in Karlsruhe noch anhängigen Verfahren als problematisch beurteilt werden könnte.

Auf Normenklarheit, also Nachvollziehbarkeit, kommt es beim deutschen Wahlrecht nur insofern an, als es die Funktionäre verstehen sollten, welche die Wahl als Verwaltungsakt abwickeln müssen.  

Subversive Wirkung?

Aber vielleicht entfaltet das Minderheitenvotum der drei dissentierenden Richter ja so etwas wie eine subversive Wirkung. Es ist als Lektüre zu empfehlen, zumal es im Gegensatz zum Mehrheitsteil auch relativ leicht zu lesen ist. Die Empfehlung gilt auch für die Regierungskoalition. Die lobt sich nun dafür, so jedenfalls der Grünen-Abgeordnete Till Steffen, man habe das Minderheitenvotum schon umgesetzt.

Von wegen. Denn was die Ampel im Frühjahr beschlossen hat, ist keineswegs ein Meisterwerk an Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit.

Oder glaubt man in der Ampel wirklich, dass die mit erheblichem Stolz auf die eigene Finesse vorgestellte Erfindung der „Zweitstimmendeckung“ den Wählerinnen und Wählern unmittelbar einleuchtet? Dass sie bis zum nächsten Wahltag wirklich nachvollzogen haben, was der Begriff bedeutet? Und wie entscheidend der Kniff für die Wahl im Wahlkreis sein kann?

Nein, das Minderheitenvotum vom Mittwoch sollte angesichts der jahrelangen Murkserei und der stetigen Verkomplizierung des Wahlrechts niemand im Bundestag zustimmend zitieren, ohne rot zu werden. Denn was die drei Richter aufgeschrieben haben (und die fünf anderen gern hätten unterschreiben dürfen), ist eine recht klare und unmissverständliche Aufforderung an das Parlament, endlich die Perspektive derjenigen, die wählen, zur Basis der Entscheidung zu machen.

Und nicht die Perspektive derjenigen, die gewählt werden und die sie beraten – mit all den nickligen Fußstellereien, eigensüchtigen Vorteilsgewährungen und professoralen Eitelkeiten, die leider seit Jahren die ewige Wahlrechtsreform beherrschen.

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