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Ein Teilnehmer mit einer schwarz-weiß-roten Reichsflagge während einer Demonstration von Reichsbürgern und anderen Rechtsextremen in Potsdam im Jahr 2020.

© imago images/Martin Müller/Martin Müller via www.imago-images.de

Ist der Osten verloren?: Die Schwankenden sind noch zu retten

Unzufriedenheit mit der Demokratie und in Teilen sogar der Wunsch nach einem Führer werfen ein schlechtes Bild auf den Osten. Das ist falsch und ernstzunehmen gleichermaßen.

Ein Kommentar von Christian Tretbar

Die Ergebnisse der Leipziger Forscher zu den politischen Einstellungen der Ostdeutschen sind verheerend. Anders kann man es nicht sagen. Demnach ist die Hälfte der Ostdeutschen mit der Demokratie unzufrieden; rechtsextreme, muslimfeindliche und antisemitische Einstellungen sind weit verbreitet. Und ein nicht unwesentlicher Teil wünscht sich sogar einen Führer.

Doch so schlimm die Ergebnisse sind, so falsch ist das Narrativ, dass alle Ostdeutschen mit der Demokratie nichts anfangen könnten und aus der Geschichte, auch ihrer eigenen, nichts gelernt hätten. Denn man tut all jenen unrecht – und das ist nach wie vor eine Mehrheit –, die eben keinen Führer wollen, die keine rechtsextremen Einstellungen haben und vermutlich selbst damit hadern, wie es politisch in ihren Nachbarhäusern so aussieht. Die Welt ist zwischen Ostsee und Erzgebirge nicht überall gleich.

Dennoch hat Deutschland ein Problem, ein gesamtdeutsches. Denn auch Allensbach hat eine Studie veröffentlicht, nach der es einen großen Teil der Gesellschaft gibt, der sich nicht repräsentiert, nicht gehört und nicht verstanden fühlt. Eine Entfremdung von Politik und Gesellschaft ist zu beobachten. Und es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West – aber auch Unterschiede.

Unterschiedliche Erfahrungen mit dem Staat im Osten

Die Unterschiede: Die Erfahrung im Umgang mit dem Staat ist in Ostdeutschland eine andere. Da war zunächst ein Staat, der Feind war; der ausgehorcht und drangsaliert hat. Dass trotzdem viele der Befragten rückblickend ein positives Bild ihrer DDR-Erfahrung haben, liegt weniger am Staat als vielmehr im Zwischenmenschlichen, Privaten.

Nach der Wende war die Staatserfahrung eine andere, nämlich die, dass der Staat eben keine Hängematte bietet, kein Rundum-Versorger ist, keine Institution, die wirtschaftliche Dynamiken wirklich abfedern kann – oder jedenfalls nicht so, wie es viele vielleicht erhofft hatten.

Dass das so war, lag auch an einer naiven Freiheitsvorstellung, die es zur Zeit des Mauerfalls und schon davor im Osten vielfach gab: Einer Freiheit der reinen Verheißung, aber weniger einer Freiheit in (Eigen-)Verantwortung.

Jetzt wird ein Staat erlebt, der sich zurückzieht. Gerade in den wenig besiedelten Gebieten in Thüringen oder Sachsen dauert es ewig bis zum nächsten Arzt, zum nächsten Amt, zum nächsten Jugendclub, zur nächsten Bus- oder Bahnhaltestelle. Gepaart mit der Überforderung vieler Kommunen im Umgang mit Flüchtlingen entsteht das Bild eines schwachen Staates.

Vor allem für die SPD gibt es ein Problem

Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten. Denn diese Wahrnehmung des schwachen Staates oder besser der schwachen Politik gibt es in ganz Deutschland. Einer Politik, die entweder Probleme nicht gelöst bekommt oder, noch schlimmer, Debatten führt, die an den Lebenswirklichkeiten vieler Menschen vorbeigehen. Oder diese in notwendigen Diskussionen wie beim Klimaschutz, der Digitalisierung, der Globalisierung nicht berücksichtigt oder gar geringschätzt.

Und dieser Teil des Erklärungsansatzes ist vor allem für die SPD ein Problem. Denn es sind (oder waren) ihre Wähler, die jetzt zum problematischen Teil in diesen Studien gehören. Olaf Scholz war mit dem Thema Respekt nah dran und hatte Erfolg damit, weil es einen Nerv getroffen hat. Nur ist dieser politische Nerv gerade offenbar stark eingeklemmt.

Zur Erkenntnis der Studien gehört auch, dass die AfD zwar ein politisches Problem ist. Aber sie ist nicht Ursache, sondern Symptom. Und die Politik täte gut daran, an den Symptomen zu arbeiten, sich nicht zurückzuziehen. Der Staat muss gerade dort, wo er gebraucht wird und wo von ihm auch zurecht etwas erwartet wird, Handlungs- und Funktionsfähigkeit beweisen.

Das hilft nicht mehr bei dem Teil der Bevölkerung, das muss man so hart sagen, der mutmaßlich dauerhaft verloren ist, der keinen Argumenten mehr zugänglich ist. Aber das ist immer noch ein kleiner Teil. Und eine Demokratie, die trotz allem sattelfest ist, wie die unsere, kann damit umgehen. Sie kann sich sogar wehren, wenn ein kleinerer Teil aufbegehrt.

Was sie sich aber nicht leisten kann, ist das weitere Anwachsen dieser Gruppe. Die Demokratie und damit letztlich alle, die in einer Gesellschaft Verantwortung tragen, sollten darum kämpfen, aus Schwankenden keine Verlorenen werden zu lassen. Da kann Zuhören schon helfen.

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