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Zwischen den Fronten: Olaf Scholz, sozialdemokratischer Bundeskanzler.

© dpa / Michael Kappeler

Historiker-Angriffe auf Kanzler und SPD-Spitze: Im Schatten der Vergangenheit

Historiker um Heinrich August Winkler rechnen in einem offenen Brief mit der SPD ab. Die Sozialdemokraten und ihre Russland-Politik: Folgt nach der Romantisierung nun die Revision?

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Was wie eine Abrechnung mit der Ukraine-Politik klingt, ist auch eine. Der Kanzler und die SPD bekommen sie sogar noch schriftlich, in dem Brief der Historiker von Rang um Heinrich August Winkler. Die Positionierung der Partei zum russischen Angriffskrieg hat sie aufgebracht. Was die fünf SPD-nahen Wissenschaftler kritisieren, ist im Prinzip richtig. Aber …

Dass die Kommunikation des Kanzlers und der SPD zur Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert wird, ist ja nicht neu. Allerdings nimmt die Schärfe der Kritik zu, und mit der Schärfe wächst die Gefahr einer Zerreißprobe für die SPD. Ist sie doch immer noch stolz auf ihre Entspannungspolitik der 1970er Jahre, besonders die gegenüber den Kremlherrschern in Moskau.

Der renommierte Geschichtswissenschaftler Winkler, SPD-Mitglied seit 60 Jahren, zerreißt nun aber gleichsam den Vorhang vor der sozialdemokratischen Ostpolitik. Dahinter verbirgt sich, dass die SPD es wohl in der Tat versäumt hat, Fehler in der Russland-Politik vergangener Jahrzehnte aufzuarbeiten. Unter der Führung von Winkler wird der Fehler jetzt allerdings schonungslos bloßgelegt.

„Vielmehr wird die Tradition der Außenpolitik Egon Bahrs nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten“, heißt es in dem Brief. Auf diese Weise mache sich die SPD unglaubwürdig und angreifbar. Darum geht es im Kern.

Vom Wandel durch Annäherung zum Wandel durch Anbiederung?

Konzepte wie „Wandel durch Annäherung“ sind nicht nur aus Sicht von Oppositionspolitikern mit den Jahren zu einem Wandel durch Anbiederung degeneriert. Wer so denkt, leitet daraus dann logischerweise dringende Handlungsempfehlungen ab wie die Historiker: mehr Klarheit und mehr Härte gegenüber dem jetzigen Kremlherrscher, mehr Solidarität in der Allianz und viel mehr mit der Ukraine, um deren Niederlage unbedingt zu verhindern.

Dass Argumente und Begründungen „immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch“ seien, ist von selten gelesener Eindeutigkeit. Was die Historiker von der SPD fordern, ist nicht weniger als eine grundlegende Neudefinition ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist der Abschied von einem „kurzsichtigen Friedensbegriff“ – und mit alledem nicht allein von Egon Bahr, sondern in großen Teilen auch von der Ikone Willy Brandt.

In großen Teilen, weil Brandt – der erste „Friedenskanzler“ – zugleich auf starke Abschreckung setzte. Zu seiner Zeit wurden 3,5 Prozent und nicht knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgegeben. Das ist schon etwas anderes als die „Realitätsverweigerung“, die die Historiker seinen Nachfolgern vorwerfen.

Zu viel an Historie kann auch ein Hemmnis sein

Gleichviel, es klingt, als hätten sie Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ neu gelesen. Als Gefahr einer „monumentalischen Historie“ beschreibt Nietzsche darin, dass man in die Nähe von Fiktion und Mythologie geraten kann; dass Nachteile der Vergangenheit verkannt werden.

Wenn Winkler und die anderen Autoren jetzt also eine „echte Zeitenwende“ fordern, passt das dazu. Historie im Übermaß, ihre Romantisierung, das beides verhindert die Einsicht, dass Russland seit vielen Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa führt. Spätestens seit dem Überfall auf die Krim, der auch schon wieder zehn Jahre her ist. Winkler hatte damals bereits gewarnt, gemahnt – und wurde überhört.

Oder doch nicht ganz. Auch wenn sich der Vorwurf explizit gegen Olaf Scholz richtet, der zunehmend Profil als „Friedenskanzler“ sucht – es ist andererseits ebendieser Scholz gewesen, der mit der seinerzeitigen SPD-Chefin Andrea Nahles die geforderte Wende einzuleiten versucht hat. Sie beide machten Heiko Maas nicht zuletzt mit dem Auftrag einer Revision der Russland-Politik zum Außenminister in der letzten großen Koalition. Der Versuch misslang, in der Außenpolitik wie in der SPD. Aber die Abrechnung hat ja gerade erst begonnen.

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