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Bundeskanzler Olaf Scholz (l., SPD) und Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, nehmen an der Fraktionssitzung ihrer Partei teil.

© dpa/Kay Nietfeld

„Hochgefährliche Realitätsverweigerung“: Historiker üben scharfe Kritik an Russland-Politik der SPD-Spitze

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Heinrich August Winkler geht in einem offenen Brief hart mit der SPD-Spitze ins Gericht. Sie werfen ihr unzureichende Solidarität mit der Ukraine vor.

In einem offenen Brief an die SPD-Spitze haben der renommierte Historiker Heinrich August Winkler und vier weitere Wissenschaftler massive Kritik an der Positionierung der Partei zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geübt. Sie werfen der SPD eine „hochgefährliche Realitätsverweigerung“ vor, wie die „Süddeutsche Zeitung“ und das „ARD-Hauptstadtbüro“ unter Berufung auf den vorliegenden Brief berichten.

Bei den Sozialdemokraten habe sich die Erkenntnis nicht durchgesetzt, dass Russland seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa führe und die Ukraine vollständig zerstören wolle. Putin habe aber nur dann ein Interesse daran, den Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt werde, heißt es demnach.

Putin werde auch nur dann ernsthaft verhandeln wollen, „wenn ihm unzweideutig vermittelt wird, dass der Westen seine erheblich größeren Ressourcen so lange wie nötig einsetzen wird, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern“.

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Die Wissenschaftler stoßen sich vor allem an den öffentlichen Äußerungen der SPD-Spitze. „Die Kommunikation des Kanzlers, der Partei- und der Fraktionsspitzen in Fragen von Waffenlieferungen wird in der Öffentlichkeit zu Recht scharf kritisiert“, zitieren die Medien aus dem Brief.

In der SPD würden immer wieder Argumente und Begründungen geliefert, die „willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch“ seien. Doch, warnen sie, „wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände“.

Wissenschaftler bemängeln Abstimmung mit Verbündeten

Hintergrund ist unter anderem die endgültige Absage von Kanzler Scholz, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. Gemeint ist aber auch die missliche Abstimmung mit den Verbündeten, die sie als „unzureichend“ bezeichnet hätten, wie es heißt.

Damit dürften sie vor allem auf die Dissonanz mit Frankreich anspielen, die es bei der Frage um die Möglichkeit einer Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine jüngst gegeben hatte. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dies nicht ausschließen wollte, hatte der Kanzler in diesem Punkt eine klare rote Linie gezogen.

Zwar habe Scholz eine Zeitenwende ausgerufen und erklärt, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. „Seine jüngsten Äußerungen und auch die der Parteiführung lassen jedoch die nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen, die daraus eigentlich folgen müsste“, zitieren die Medien aus dem Brief.

Die Historiker fordern die SPD auf, die notwendige „Positionsklärung vorzunehmen“, immerhin gehe es im Umgang mit einem neo-imperialen Russland um eine für Deutschlands und Europas Zukunft zentrale sicherheitspolitische Frage.

„Fatale Äußerung“ von Mützenich

Ebenso hart ins Gericht gehen die Wissenschaftler mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Dieser hatte jüngst mit einer Äußerung im Bundestag eine Debatte losgetreten und viel Kritik auf sich gezogen. „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“, hatte er gefragt.

Als „fatale Äußerung“ sehen die Wissenschaftler dies und sprechen laut den Berichten von einem „kurzsichtigen Friedensbegriff einiger Genossen“. In diesem Zusammenhang monierten die Historiker um Winkler auch, dass die SPD ihre Fehler im Umgang mit Russland in den vergangenen Jahrzehnten nicht aufgearbeitet habe.

Die Wissenschaftler appellierten deshalb an die SPD, eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu formulieren. Zugleich, heißt es, fordern sie die Genossen auf, klarzustellen, dass es nicht darum gehe, Russland anzugreifen oder zu schaden, „sondern die 1991 auch von Russland anerkannte Unabhängigkeit der Ukraine wiederherzustellen“.

Außer Winkler hätten den Brief Jan Claas Behrends, Gabriele Lingelbach, Martina Winkler und Dirk Schumann unterzeichnet. Wie ARD und „SZ“ übereinstimmend berichten, will die SPD-Führung nun das Gespräch mit den Historikern suchen.

SPD-Verteidigungspolitiker kann die Kritik teilweise nachvollziehen

SPD-Verteidigungspolitiker Andreas Schwarz fürchtet keinen Riss in seiner Partei. „Das muss auch eine Demokratie, das muss auch eine Partei aushalten, dass es unterschiedliche Meinungen zu einer wirklich sehr komplexen Frage gibt“, sagte er am Donnerstag im Deutschlandfunk.

Schwarz kann die Kritik der Wissenschaftler zum Teil jedoch nachvollziehen. „Ich glaube, wir sind da vielleicht an der einen oder anderen Stelle noch zu gutgläubig, weil wir einfach seit ‘89 von der Friedensdividende verwöhnt sind“, sagte er. „Natürlich muss man auch als Deutschland in so eine neue Führungsrolle reinwachsen.“ Man habe 2022 in der SPD einen Paradigmenwechsel etwa beim Thema Waffenlieferungen in Kriegsgebiete vollzogen, der sicherlich noch nachwirke. Manche in der Partei schafften das schneller und andere brauchten ein bisschen mehr Zeit, um sich mit den neuen Gegebenheiten in der Welt anzufreunden.

„Was Putin versteht, ist Stärke und Härte“, sagte Schwarz im Deutschlandfunk. „Er will das Recht der Stärkeren, während wir auf die Stärke des Rechts setzen.“ Gegenüber Russland müsse man – auch im Zusammenspiel mit europäischen Partnern – immer wieder zeigen, „wir sind uns da einig und wir haben da auch eine geschlossene Kommunikation“.

(Tsp, cz)

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